Es gibt Projekte, bei denen weiß man einfach nicht, was am Ende herauskommt. »Dance with the Desert« ist genau so eines. Denn anlässlich des Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« wollen Studierende der University of Europe for Applied Sciences in Berlin, der Hochschule Düsseldorf und der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem unterschiedliche Konzepte ausprobieren, wie Juden und Nichtjuden, Deutsche unterschiedlicher Herkunft sowie Israelis miteinander besser ins Gespräch kommen können. Alles ist also ganz bewusst ergebnisoffen und bleibt damit spannend.
»Wir stehen noch am Anfang«, betont Anja Vormann. »Es geht uns darum, auszuloten, was funktioniert und was nicht«, so die Professorin mit dem Fachgebiet Audiovisuelles Design aus der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt, die das Projekt begleitet. In der Unterhaltung mit ihr und den Studierenden fällt daher auch immer wieder die Redewendung »Work in Progress«, wenn sie von ihren Ansätzen berichten, die verschiedenen Dialogformate zum Einsatz zu bringen.
KARTEN Wie so etwas konkret aussehen kann, war unter anderem vor dem »feldfünf«-Projektraum am Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz in unmittelbarer Nähe zum Jüdischen Museum in Berlin zu sehen. Dort hatte man mehrere Hocker platziert, auf denen jeweils eine jüdische und eine nichtjüdische Person Platz nehmen sollten, um über ein breites Spektrum an Themen zu sprechen. Das Ganze wird dann mit der Kamera festgehalten. Direkt daneben steht ein Übertragungswagen, in dem die Videoporträts und Tonaufnahmen sofort professionell bearbeitet werden.
Eine DJane aus Israel trifft auf einen Deutschen mit kenianischen Wurzeln.
»Es handelt sich dabei nicht um ein klassisches Frage-Antwort-Spiel, sondern um ein dialogisches Gesprächsformat«, erklärt Marcel Mücke, einer der Studierenden aus Düsseldorf und Kommunikationsdesigner. »Zwei Menschen, die sich auf den Hockern gegenübersitzen, tauschen sich über Aspekte des jüdischen Lebens aus. Die Ideen und Anregungen zu den Themen finden sie mithilfe von kleinen Karten.«
Auf diesen sind über 50 Begriffe wie »Werte«, »Sehnsucht« oder »Essen« zu lesen, und zwar auf Englisch, Deutsch und Hebräisch. Die teilnehmenden Personen können sich einen oder mehrere davon aussuchen. »Das dient dem Gesprächseinstieg«, skizziert Vormann die Idee dahinter. »Es können die individuellen Vorstellungen zur Sprache gebracht werden, was man unter dem jeweiligen Wort versteht. So lassen sich diese Begriffe geradezu sezieren.«
Selbstverständlich wird die Kartensammlung kontinuierlich erweitert und verändert. »Sie ist ohnehin eine Art Gemeinschaftsprodukt«, weiß die Professorin zu berichten. Alle, die an dem Projekt »Dance with the Desert« beteiligt sind, haben daran mitgearbeitet. »Wenn es Narrative gibt, so zerfallen sie jetzt in einzelne Begriffe oder Schlagwörter.« Die so initiierten Gespräche zwischen Juden und Nichtjuden sollen es ermöglichen, die verschiedenen Bedeutungsebenen, die sich dahinter verbergen, zu zweit zu erschließen und zur Diskussion zu stellen. Und noch etwas macht das Konzept möglich: »Wir vermeiden auf diese Weise die üblichen Stereotype. Genau das ist unsere Absicht.«
BEGEGNUNGEN So treffen in den Zweiergesprächen beispielsweise eine DJane aus Israel und ein Deutscher mit kenianischen Wurzeln aufeinander und unterhalten sich über die verschiedenen Strömungen im Judentum. Oder zwei Studierende aus Berlin, die sich aus der Hochschule zwar bereits kannten, aber nicht viel Persönliches voneinander wussten, kommen zusammen.
Der jüdische Kommilitone plaudert recht offen darüber, welche Rolle die Gemeinde oder die Teilnahme an Machanot bei der Entwicklung seines jüdischen Selbstverständnisses gespielt hatten und noch vieles mehr. Dabei kommen regelmäßig die Karten mit den Begriffen ins Spiel, die nicht nur den Einstieg in das Gespräch erleichtern, sondern es in immer neue Richtungen lenken.
Der jüdische Kommilitone plaudert recht offen darüber, welche Rolle die Gemeinde oder die Teilnahme an Machanot bei der Entwicklung seines jüdischen Selbstverständnisses gespielt hatten.
Die Tatsache, dass »Dance with the Desert« von Studierenden und Lehrenden aus den Fachbereichen Kommunikationsdesign, Illustration, Fotografie, Film oder Motion Design, Interaction Design sowie Game Design getragen wird, erzeugt Synergien und neue Perspektiven, wie man sie in dieser Form bisher selten zu Gesicht bekommen hat.
So hat Patrick Kruse zusammen mit Paul Kretschel, beide ebenfalls von der Hochschule Düsseldorf, das Projekt »Hidden Rooms« konzipiert, das sich den rund 2800 Synagogen und Gebetsräumen widmet, die es im deutschsprachigen Raum vor dem Zweiten Weltkrieg gab. Die allermeisten davon wurden bereits 1938 von den Nazis zerstört. »Mir geht es dabei um die Schaffung eines digitalen Gedenkortes«, so Kruse.
Und das soll folgendermaßen funktionieren: »Wenn man genau an die Stelle kommt, wo sich einst der Eingang einer Synagoge in Berlin befand, öffnet sich ein digitales Portal.« Mithilfe eines Tablets oder Smartphones lässt sich dann die alte Tür durchschreiten, und man kann einen Blick in die Räumlichkeiten werfen – Augmented Reality nennt sich dieses Verfahren, also eine computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung.
hybrid Ganz bewusst verzichten Kruse und Kretschel auf das Zeigen der Außenfassade und beschränken sich bei der Darstellung der Synagogen allein auf die Tür. Auf diese Weise wollen sie einerseits auf den großen Verlust aufmerksam machen, der durch die Zerstörung der Gebäude entstanden ist. Andererseits möchten sie so verdeutlichen, dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen ist, den eigentlichen Kern der jüdischen Kultur auszulöschen. »Es blieb bei der Beschädigung der Hülle.«
In ihren Arbeiten sind die beiden Studierenden sehr auf vorhandenes Archivmaterial angewiesen, auf alte Architektenpläne, Fotos und Zeichnung, um ihren Hybrid aus physischem und digitalem Erinnerungsort zu schaffen.
Auch die Musik kommt zum Einsatz, und zwar als Sprachraum, wie es Marcel Mücke beschreibt. »Sie ist ein universelles System, kennt aber viele eigene Dialekte.« Er möchte Harmonie und Dissonanz in verschiedenen Skalen hörbar machen, wobei er sich auf die Tonart Moll konzentriert. Durch Veränderungen der Perspektive lassen sich zahlreiche historische Entwicklungen nachvollziehen. »Wird nur ein einzelner Ton des sogenannten natürlichen Moll verschoben, so erhält man das ›harmonische Moll‹, das vor allem im osteuropäischen und arabischen Raum gebräuchlich war.«
Wird dieses wiederum nicht vom ersten Ton aus gespielt, sondern vom fünften, ergibt es eine ganz andere Tonart, nämlich phrygisch-dominant, auf Jiddisch auch Freygish genannt. Und schon ist es Klezmer. »Wird hier ein weiterer einzelner Ton verschoben, so erhält man das Moll der Sinti und Roma.«
Der Gesprächsfaden zwischen der Enkelin und Großmutter reißt nicht ab.
Solche Verschiebungen von Tönen und Tonleitern legen geografische und kulturelle Schichten frei. »In der Sprache lassen sich Konflikte schärfer formulieren«, ergänzt Vormann. »In der Musik ist das eher nicht der Fall, weshalb sie vielleicht auch vermittelnder wirken kann.«
VERMITTLUNG Um Vermittlung ging es auch in anderen Beiträgen. In »My Grandmother and I – Israel – Germany« beispielsweise interviewt die israelische Künstlerin Shir Zilberstein in der Zeit der Pandemie ihre Großmutter, die als Schoa-Überlebende mit der Entscheidung ihrer Enkelin, in Deutschland zu leben, nicht sonderlich glücklich ist. Trotzdem reden beide miteinander.
Daraus ist ein Dialog zwischen den Generationen geworden, die sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und diese nun verhandeln. »Einerseits weiß ich, dass meine Großmutter sehr wütend sein wird, wenn ich ihr davon erzähle«, schreibt Zilberstein über ihre Arbeit. »Andererseits ist es ein guter Ausgangspunkt.« Und weil der Gesprächsfaden nicht abgerissen ist, sondern noch weitergeführt wird, ist auch das Projekt von Zilberstein noch lange nicht abgeschlossen.
Im Herbst wird »Dance with the Desert« in Düsseldorf zu sehen sein. »Im November soll es dann nach Israel gehen«, so Vormann. Man darf gespannt sein, wie sich die einzelnen Arbeiten bis dahin weiterentwickelt haben – schließlich bleibt ja alles im Fluss. »Work in Progress« eben.