Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024 18:24 Uhr

Symbolische Sanduhr: Protestaktion von Angehörigen israelischer Geiseln vor dem Paul-Löbe-Haus in Berlin Foto: picture alliance/dpa

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024 18:24 Uhr

Entschlossen kramte ich meine Davidsternkette, die ich fast 20 Jahre lang nicht mehr getragen hatte, aus dem Schmuckkästchen und legte sie mir um den Hals. Dazu hängte ich mir die Plakette der neu gegründeten Hilfsorganisation »Frankfurter helfen« um. Der Verein setzt sich für die Opfer des Terroranschlags, deren Familien, die mutigen israelischen Soldaten und Soldatinnen (die meist so alt sind wie meine beiden älteren Kinder) und für die entführten Geiseln ein.

»Bring them home« steht auf der Plakette und fordert damit dasselbe wie die Plakate mit Bildern der entführten Menschen, die weltweit wutentbrannt von Wänden gerissen werden. Als sei es eine Zumutung, auf unschuldige Menschen aufmerksam zu machen, die zitternd, hungernd, verletzt, vergewaltigt, gefesselt und stumm in dunklen Tunneln oder fremden Kellern wimmern. Seit über sechs Monaten.

Sechs Monate, ein halbes Jahr, in dem die Zeit stillsteht

Sechs Monate, ein halbes Jahr, in dem für sie, ihre Familien, Freunde und Freundinnen, die jüdische Gemeinschaft weltweit und die notleidenden Zivilisten in Gaza die Zeit stillsteht. Seither gibt es nichts als Hass. Überall. Hass ist allgegenwärtig. Er ist an Wänden, auf den Straßen, in Bussen und Bahnen, an Schulen, Universitäten, auf Bühnen, an Küchen- und an Stammtischen. Der Hass wird gebrüllt, gezischt, geflüstert und dahergeplappert. Er verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und es zündelt an jeder Ecke.

Nach dem Schock und der anfänglichen inneren Lähmung, die mit Tränen, Sprach- und Hilflosigkeit einhergingen, folgten zunächst Leere und Einsamkeit. Nur so wenige Menschen an unserer Seite zu wissen, ist ein herber Schlag und eine harte Ernüchterung gewesen. Wir Juden und Jüdinnen rückten zusammen. Gaben uns Halt, Kraft und sogar ein bisschen Mut.

Wir Juden und Jüdinnen rückten zusammen. Gaben uns Halt, Kraft und ein bisschen Mut.

Schnell gründeten sich viele verschiedene WhatsApp-Gruppen. Zum Teilen wichtiger Informationen oder zur Unterstützung bei der Planung und Organisation von Kundgebungen und Hilfsaktionen. In anderen Gruppen wiederum wurden widerliche Hass- und Lügenposts aus den sozialen Medien geteilt, in der Hoffnung, unser Melden könnte den Falschinformationen, Verschwörungstheorien und der riesigen Welle an Antisemitismus etwas entgegensetzen. Ein hoffnungsloser Versuch, denn die Welle erwies sich als unaufhaltsamer Tsunami.

Doch das ahnte ich noch nicht. Ich freute mich, aktiv sein zu können, nicht restlos untätig sein zu müssen, sog alle Informationen auf, als könne uns das retten. Ich las und las, wollte mich wappnen. Ich postete alles, was mir wichtig erschien, und hoffte, alle meine Kontakte würden es lesen und wären so vor der Monsterwelle des Hasses geschützt.

Ich war so stolz auf die wenigen Journalisten, Künstler, Autoren, Filmemacher, Politiker, Sportler, Aktivisten, die mutig ihre Stimmen erhoben, kluge Texte schrieben, nie Hass aussandten und sich dem Tsunami des Bösen mit Verstand und Herz entgegenstellten. Sie trafen und treffen unsere Herzen, sind unser Sprachrohr, machen Gedanken und Gefühle und vor allem Fakten sichtbar, geben meinem inneren Kompass ein Ventil. Es schien, als könnten Vernunft, fundierte Bildung, Geschichtsbewusstsein und Kultur siegen. Ungeachtet der Lügen, die so hemmungslos in die Welt hinausgebrüllt werden – uns überschwemmen.

Nie habe ich ein so starkes Bedürfnis gespürt, meine Zugehörigkeit nach außen zu tragen

Mein Davidstern liegt genau in der Mitte des Schlüsselbeins unterhalb der Einbuchtung am Hals, die so häufig pocht und drückt in letzter Zeit. Nie habe ich ein so starkes Bedürfnis gespürt, meine Zugehörigkeit nach außen zu tragen. Ich gehöre einer Gruppe an, die, ungeachtet aller Unterschiede, in Krisenzeiten beieinander, zueinander, miteinander steht und nur dadurch immer wieder der Ausrottung entkommen konnte.

»Warum postest du das ganze Zeug, Barbara? Das liest doch keiner«, ernüchterte mich eine nichtjüdische Bekannte. Obwohl ich das in meinem Innersten befürchtet hatte, wollte ich es nicht hören. Es ist ein Ast, an den ich mich klammere. »Doch! Das lesen ganz viele«, trotzte ich beleidigt und wusste, dass es fast ausschließlich Juden und Jüdinnen sind, die sich über meine empfohlenen Lektüren freuen und sich, genau wie ich, von Ast zu Ast hangeln. Die WhatsApp-Gruppe zum Melden von Hassposts gab es schon nach wenigen Wochen nicht mehr. Wir kamen bei der Masse an Verachtung und Entmenschlichung im Netz einfach nicht hinterher, und so löste sich die Gruppe und damit auch diese Hoffnung auf. Knacks, knacks … Ein Ast nach dem anderen bricht. Wir hangeln uns zum nächsten.

Der Davidstern strahlt wie ein Schutzschild auf meinem Dekolleté. Auf der Frankfurter Zeil lege ich mir dann doch lieber einen Schal um. Furcht überwiegt den Wunsch, meine Zugehörigkeit zu zeigen. Scheiße! Es knackst.

Ich gehe in den Supermarkt, stehe an der Kasse, hinter mir eine Muslimin mit Kopftuch. Die Kuhle über dem Schlüsselbein pocht. Sieht sie meinen Stern? Hasst sie mich womöglich? Oder fürchtet sie vielleicht gerade genau dasselbe von mir? Es pocht … Meine Finger rutschen am rauen Ast entlang. Millimeter für Millimeter. Es knackst.

Juden und Jüdinnen aus meinem Bekanntenkreis posten weniger als anfangs

Juden und Jüdinnen aus meinem Bekanntenkreis posten weniger als anfangs. Es wird ruhiger, das Atmen schwerer. »Wir werden einen langen Atem brauchen«, sagte die Journalistin Esther Schapira bereits im November 2023 zu mir. Seither sehe ich nur Bilder des Entsetzens: abgehackte Gliedmaßen, verbrannte Körper, weinende, flehende, hungernde Kinder, Frauen und Männer, zerstörte Häuser, Straßen und Plätze, Raketen, dunkle Tunnel, bis zum Anschlag bewaffnete Soldaten.

Nur eines kann ich nirgendwo entdecken: den Gegner. Den Verursacher des Unheils, des Krieges. Wo ist es, das zähnefletschende Ungeheuer? Die Hamas-Krieger haben sich in Luft aufgelöst. Sind für die Welt unsichtbar. Es gibt sie gar nicht, diese Terroristen, die Betonhöhlen und unterirdische Gänge mit dem Geld bauen, das die palästinensische Zivilbevölkerung ernähren, bilden, medizinisch versorgen und vor allem schützen sollte. Die Hamas-Kämpfer sind verschwunden, verstecken sich wie elende Feiglinge unter den zerstörten Häusern ihrer Kinder, Frauen und Mütter, und ein großer Teil der Welt steht in Flammen – geschlossen im Hass gegen Juden.

Seit fast sechs Monaten wird das Bewusstsein um die Täter und deren Taten systematisch verzerrt. Es verblasst unter den Trümmern der Zerstörung. Die Erde bebt, die Welle des Hasses ist so hoch wie nie zuvor. Kann ein Baum dem standhalten? Blutleer rutschen meine Fingerkuppen tiefer. Es knackst.

Knacks, knacks … Ein Ast nach dem anderen bricht. Wir hangeln uns zum nächsten.

Stopp! Bin ich etwa ein Affe, der ängstlich und kraftlos an einem Ast hängt? Nein, bin ich nicht. Ich bin ein freier Mensch, in einem freien Land, in dem ich sagen kann, was ich möchte und das Land verlassen kann, wann immer es mir beliebt. Warum sollte ich mein Leben von Lügen, Hetze und Hass bestimmen lassen? Das werde ich ganz sicher nicht.

Als ich Teile dieses Textes schrieb, saß ich im Zug nach Unna, einer kleinen Stadt nahe Dortmund, wo ich am Abend eine Lesung hatte. In einer Synagoge, die ehemals eine evangelische Kirche gewesen ist und durch die Initiative einer entzückenden älteren Jüdin mit russischem Akzent und einer energischen Pfarrerin der Gegend nun zum Zentrum der kleinen Jüdischen Gemeinde geworden ist.

Im Anschluss an meine Lesung saßen die Pfarrerin, die jüdische Gemeindevorsteherin, eine muslimische Unterstützerin der Gemeinde, die Stadträtin, die Sängerin und der Gitarrist des Abends und ich beim Essen zusammen, und wir waren uns alle einig: Wir wollen ein Miteinander, ein Füreinander und ein Beieinander.

Und das geht nur mit Begegnung und respektvollem Austausch. Ganz sicher nicht durch Resignation. Also mache ich weiter. Fahre auf Lesungen, auf denen die Gäste in mir oft die erste Jüdin ihres Lebens kennenlernen und danach mit einem guten Gefühl und einem Lächeln nach Hause gehen.

Ich setze Steinchen auf Steinchen. Manchmal ein wenig mühsam und manchmal mit klopfendem Herzen, aber letztlich immer erfüllend. Anstatt mich vor dem Hass ängstigend von Ast zu Ast hangeln zu müssen, baue ich lieber weiter eine Brücke. In der Hoffnung, sie möge dem Tsunami standhalten. Meine Brücke der Hoffnung.

Die Autorin lebt in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien von ihr »Der Rabbiner ohne Schuh. Kuriositäten aus meinem fast koscheren Leben«.

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