Mein Tag beginnt mit dem Gebet. Ich lebe in der Lauder Yeshurun, einer Jeschiwa in Berlin-Mitte. Hier habe ich alles beieinander: mein Wohnzimmer, unseren Speisesaal, die Bibliothek, die Lernräume und vor allem die Synagoge. An der Jeschiwa in der Brunnenstraße verbringe ich in der Regel die erste Hälfte des Tages. Dann geht es zum Atelier, das zum Glück nicht weit entfernt liegt, in einem Künstlerhaus in der ehemaligen Molkerei. Es sind zu Fuß nur zehn Minuten, aber es ist eine andere Welt. So wie in der Jeschiwa das Lesen allein und das gemeinsame Lernen mit anderen, brauche ich auch im Atelier beides: Ich arbeite gern allein, aber tausche mich ebenso mit anderen Künstlern im Haus aus.
Mit dem Malen fing ich als Kind noch in Moskau an. Als meine Eltern mich nach Deutschland mitnahmen, setzte ich es fort, in Dortmund. Außerdem las ich schon immer leidenschaftlich gern und viel. Bis ich die jüdische Philosophie für mich entdeckt hatte, waren meine Favoriten Friedrich Nietzsche und Jacques Derrida. Aber wir Juden haben Glück, so nah an der Quelle der Wahrheit zu sein, die sich in Tora und Talmud offenbart. Und das ist nicht nur »theoretische« Wahrheit, sondern Weisheit, die sich im Leben umsetzt. Überhaupt ist das Judentum für mich Arbeit an mir selbst. Und genau hier treffen sich Religion und Kunst: Es geht darum, die Welt und sich selbst zu verstehen. Mit dem Unterschied, dass der Künstler diesen Prozess unbewusst durchmacht.
Wenn ich zu malen anfange, weiß ich nicht, was am Ende entstehen wird. Skizzen sind nicht mein Ding. Um die großformatigen Arbeiten vorzubereiten, male ich einfach eine Serie von kleinformatigen Bildern, bis das Thema gereift ist. Den Holzrahmen herstellen und Leinwand aufspannen – das alles mache ich selbst. In meiner Werkstatt habe ich das Gerät dazu. Auch Ölfarbe muss ich einkaufen, ein Bild mit den Maßen 3,5 mal 1,9 Meter braucht eine Vorinvestition in alle Materialien von etwa 200 Euro.
Am liebsten male ich von morgens bis abends ohne Pause. Proviant besorge ich mir dann im Voraus für den ganzen Tag und schalte das Handy aus. Manchmal scheint es mir angebracht, die Entstehung eines Bildes mit der Geburt eines Kindes zu vergleichen. Ich verliere mich im Malen, irre gewissermaßen im Ungewissen, und kurz bevor es unerträglich wird, ist das Bild fertig. Dann spüre ich Erleichterung und Freude, aber auch den Schmerz des Abschieds, denn nun beginnt das Geschaffene sein eigenes Leben.
Ich kann mich nicht beklagen: Meine Bilder werden oft ausgestellt. Gemessen daran, dass ich erst 24 Jahre alt bin, ist die Liste von Ausstellungen recht lang. Mit zwei Galeristen stehe ich unter Vertrag: Otto Schweins in Köln und Jiri Svestka in Prag, der auch in Berlin eine Galerie eröffnet hat.
Im vergangenen Frühjahr bin ich, noch von Dortmund aus, zur Art Cologne nach Köln gefahren. Auf dieser wichtigen Kunstmesse wurde ich diesmal nicht nur als klassischer Teilnehmer ausgestellt, sondern in der Reihe der »besonders Erfolg versprechenden jungen Künstler«.
Studium Ich habe Glück mit Menschen, die mir begegnen. So war das mit dem russischen Philosophen und Verleger Igor Savkin, der übrigens kein Jude ist, mir aber den Weg zu jüdischen Schriften aufgezeigt hat. Mein älterer Freund Vilen Barsky ermutigte mich, mich ohne Abitur, nur mit meinen Bildern, an der Kunstakademie Düsseldorf zu bewerben. Es ging gut, somit war ich schon mit 22 ein ausgebildeter Künstler – mit Stempel und Siegel. Aber dieser Abschluss ist natürlich nur eine Formalität, ich muss jeden Tag dazulernen. Und das tue ich, nicht nur in meiner Werkstatt, sondern auch – und in erster Linie – in der Jeschiwa.
Wir lernen, wie das Universum in unserem Leben zu übersetzen ist. Die Tora ist end- und grenzenlos und von uns Sterblichen nicht bis zum Ende zu begreifen. Und trotzdem ist sie dafür da, Einblicke in die absolute Wahrheit zu schaffen und diese für den Alltag zu übersetzen. Schon bevor ich anfing, systematisch Tora und Talmud zu lernen, fand ich in der Malerei das Mittel, durch Symbole und Zeichen das Unbegreifliche – wenn auch nur zum Teil – sichtbar zu machen.
Die jüdischen Studien geben mir außerdem Mut und Kraft, in die Tiefe zu gehen. So wie man sich mit einem hebräischen Buchstaben einen Monat lang beschäftigen kann und dabei immer neue Erkenntnisse erlangt, so kann ich ein Symbol in der Malerei durch verschiedene Farben oder Techniken immer wieder neu erfinden.
Ich habe übrigens nie einen Namen für das Bild, solange ich daran arbeite, oft auch lange Zeit danach nicht. Manchmal bleibt es ohne Titel, manchmal geben ihm die Betrachter einen Namen. Schön so, ich freue mich auf Reaktionen der Menschen, die meine Arbeiten in Ausstellungen, Galerien oder in der Werkstatt sehen. Egal, ob sie sozusagen fachkundig sind oder nicht. Was ich grundsätzlich nicht mache, ist das Malen auf Bestellung, eben weil ich mir weder den Namen noch ein Programm für das anstehende Bild vornehmen kann.
Mittelalter So wie ich haben viele Jeschiwa-Studenten ihre Interessen auch außerhalb. Das wird nicht nur erlaubt, sondern wir werden regelrecht unterstützt darin, unsere Studien mit alltäglichem Leben oder mit einem Beruf zu verbinden. Ich will auf keinen Fall, dass sich mein Beruf und mein religiöses Studium nebeneinander her entwickeln. Mir schwebt Kunst vor, die religiös ist. In diesem Sinne will ich an die Malerei des Mittelalters anknüpfen, die christliche Darstellung ausgenommen. Diese Kunst hat eine große spirituelle Ausstrahlung, weil die Künstler nicht auf kirchliche Bestellung hin arbeiteten, sondern selbst zutiefst religiös waren. Viele studierten Mystik, die ihre Ursprünge in der jüdischen Mystik hatte. Genau dort will ich anknüpfen und jüdische religiöse Kunst schaffen.
Rembrandt Ich glaube übrigens, dass die atheistische Kunstepoche keinen Erfolg haben konnte und kann. Denn diese Kunst ist immer auf der Suche nach Wahrheit ohne klaren Inhalt, wie ein Irrelaufen im Labyrinth. Man erfindet immer etwas Neues, was aber trotzdem keine Befriedigung für den Künstler und keine wirklichen Impulse für den Beobachter schafft. Dagegen kann die religiös geprägte Kunst erfüllen, fesseln, immer wieder Neues erklären und auf Dauer – Trends hin oder her – bestehen. Ein Paradebeispiel für eine solche Kunst ist für mich Rembrandt. Ich würde sogar so weit gehen und ihn als jüdischen religiösen Künstler bezeichnen. Nicht nur, weil er viele Juden malte, sondern seine Kunst, insbesondere Darstellungen aus den fünf Büchern Moses, sind geradezu gefüllt mit jüdischer Religiosität. Rembrandt war kein Jude. Ich bin es. Umso mehr muss ich jüdische Kunst schaffen.
Zum Abendgebet und zum Abendessen kehre ich dann in die Jeschiwa zurück. Die Malerei tritt dann in den Hintergrund oder vielmehr schlummert sie im Hintergrund und wartet. Neue Impulse kommen aus Talmud, Gebet und aus den Gesprächen mit meinen Lehrern und anderen Studenten der Jeschiwa. Meine Serie von großformatigen Bildern, die ich in Berlin gemalt habe, wurde von vielen »Das Haus« genannt. Ich würde es »House of Spirit« nennen. Das trifft für meine Jeschiwa voll zu.
Aufgezeichnet von Irina Leytus