125 Jahre Kudamm

Stadtgeschichten

Der Kurfürstendamm hat sich für sie in den vergangenen drei Jahren sehr verändert. Früher war der Westberliner Boulevard für Sonja Miltenberger eine gewöhnliche Hauptstraße, Einkaufs- und Bummelmeile. Nun aber kennt sie zu viele Schicksale der Juden, die vor und in der Nazizeit hier lebten und die sie immer begleiten, wenn sie über den Kudamm geht. Zum Beispiel, wenn sie an der Ecke Joachimstaler Straße vorbeikommt: »Im Haus Nummer 14-15 arbeitete die Fotografin Frieda Gertrud Riess, ein Haus weiter hatte Louis Frühling das Hotel ›Frühling am Zoo‹. Dort wo heute das Café Kranzler ist, lebte der Stadtrat und Ehrenbürger Charlottenburgs Max Cassirer«, erzählt sie. »Auch Rechtsanwalt Alexander Guttmann wohnte wenige Häuser weiter am Kudamm 22 a, der Gastwirt Adolf Veit hatte seine Wohnung im Gartenhaus«. Sonja Miltenberger kann zu fast jedem Gebäude etwas berichten.

Als die Archivarin des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf vor drei Jahren mit ihren Recherchen begann, wusste sie, dass es mehr als 26 jüdische Adressen am Kudamm vor der Nazizeit gegeben hatte. »Doch dann wurde ich von der Menge regelrecht überrascht, denn ich fand weit über 2.500 Anschriften«, sagt die 56-Jährige. Diese hat sie nun in ihrem Buch Jüdisches Leben am Kurfürstendamm verarbeitet, das seit Montag im Handel erhältlich ist und das am Dienstag im Gemeindehaus Fasanenstraße präsentiert wurde. Haus für Haus werden darin jüdische Bewohnerinnen und Bewohner mit Lebensdaten, Beruf und Zeitangaben, wann sie am Kudamm wohnten, vorgestellt. Die Adressen sind im zweiten Teil des Buches zu finden, hingegen werden im ersten Abschnitt einzelne Aspekte der Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Menschen beschrieben, Einzelschicksale werden vorgestellt und Zeitzeuginnen kommen zu Wort.

Quellen Am Anfang ihrer Forschungen ging Sonja Miltenberger in die Archive. Weit über 1.000 Akten sowie zahlreiche andere personenbezogene Quellen habe sie ausgewertet. Ebenso schaute sie damalige Berliner Adressbücher durch. »Manchmal hatte ich das Gefühl, das die Familie, über die ich gerade las, neben mir stand. Es ließ mich nicht mehr los – vor allem bei den Deportationslisten.«

Vom historischen Verkehrsturm aus, Ecke Joachimstaler Straße, zeigt sie auf den modernen Rundbau Kurfürstendamm 227, in dem heute eine Filiale einer Bekleidungskette und ein Hotel untergebracht sind. »Dort war früher das Wäschehaus Grünfeld«, sagt sie. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg war es ein Rundbau, wie sie auf einem Foto präsentiert, das im Besitz des Museums ist. Eine Bombe hatte es zerstört.

Familie Fritz Grünfeld lebte seit den 20er-Jahren mit seiner Frau Hilde und ihren drei Kindern im Dachgeschoss. Darüber hatten sie auch eine Terrasse. Vor dem Umbau zum Kaufhaus betrieb der Kaufmann Max Loewinsohn von 1913 an sein Modellhaus Maison Paris. Im Nachbarhaus (Hausnummer 228) ließ sich Eugen Grün mit einem Geschäft für Herrenmoden nieder. Noch ein Haus weiter fertigten im Maison Conrad Recha Cohn, ihre Schwiegertochter und acht weitere Putzmacherinnnen Modellhüte für die feine Gesellschaft an. »Das Wäschehaus Grünfeld erlangte innerhalb von zehn Jahren (1928–38) einen solchen Bekanntheitsgrad in der ganzen Stadt, dass selbst nach dem Zwangsverkauf 1938 der neue ›arische‹ Besitzer Max Kühl den Firmennamen Grünfeld behielt, um seinen Umsatz nicht zu gefährden.«

Die Familie konnte nach Palästina emigrieren. Die jüngste Tochter Ruth Weil, 1924 geboren, lebt heute in London und kam zur Buchvorstellung extra nach Berlin. »Diese Geschichte ist gut ausgegangen, der Hotelier Louis Frühling konnte hingegen nicht auswandern«, sagt Sonja Miltenberger. Er wurde nach Theresienstadt deportiert und ermordet.

Auch der Gastwirt Adolf Veit wurde mit seiner Frau und Tochter deportiert, nur sein Sohn konnte dank eines Kindertransportes überleben. Er kann sich noch erinnern, dass seine Eltern bis 1942 das Lokal weiterführten. Es war das letzte koschere Restaurant Berlins. Zum Laubhüttenfest stellten sie immer eine Sukka im Hof auf. Kurz vor der Deportation wurde die Familie enteignet.

Immer wenn die Archivarin eine Adresse von Familienmitgliedern fand, nahm sie mit ihnen Kontakt auf. Bei einigen hatte Sonja Miltenberger den Eindruck, dass sie sich ungern an diese Zeit erinnern wollten, andere seien sehr offen gewesen und mit einigen stehe sie weiterhin in Kontakt. »Immerhin sind sie nun über 80 Jahre alt«, sagt sie. »Zeitzeugen sind die besten Quellen. Ich habe viel von diesen Menschen erfahren.«

»Es ist ein Stück Geschichte dieser Stadt – das Buch sollte für alle Berliner und alle Besucher sein«, meint Sonja Miltenberger.
Am liebsten würde die Archivarin weiterarbeiten – denn zum Beispiel auch in der Wilhelmstraße und in der Kantstraße haben viele Juden gelebt.

Sonja Miltenberger: »Jüdisches Leben am Kurfürstendamm«, Hrsg.: Museum Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin, text.verlag, Berlin 2011, 240 S., 16,80 €

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