Bestandsaufnahme

Stabiles Niveau

Ein Muss für ein dauerhaftes Bleiberecht: Staatskunde und Deutsch Foto: dpa

Die große Euphorie des jüdischen Aufbruchs, des Neuanfangs seit den 90er-Jahren in Deutschland, ist abgeebbt. Droht den jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik eine existenzielle Krise? Aufgrund der Gesetzesverschärfungen von 2005 und 2007 sind die Zuwanderungsbedingungen für Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wesentlich strenger geworden – und damit auch ihre Zuwanderung faktisch zum Erliegen gekommen.

Umstritten ist die Novellierung des entsprechenden Gesetzes besonders durch die unterschiedliche Bestimmung nach ethnischen Gruppen: Neben Afrikanern und Türken müssen auch Familienmitglieder, die aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik nachziehen wollen, bereits im Vorfeld Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. Von Ehegatten aus Staaten wie Südkorea, Japan, Australien oder den USA hingegen wird dies nicht verlangt.

Änderung Die außerordentlichen Rechte der Kontingentflüchtlinge sind seit der Gesetzesnovellierung aufgehoben und der schleichende Rückgang der Gemeindemitgliederzahlen eingeleitet. Wurden 2006 noch 107.000 Mitglieder gezählt, sind es heute noch etwa 104.000.
Auch für diejenigen, die schon im Land leben, hat sich einiges verschärft. Waren Integrationskurse früher noch freiwillig, gelten sie mit Stichdatum vom 1. Januar 2005 als verpflichtend.

Einbürgerungswillige haben künftig neben 600 Stunden Deutschunterricht und Kenntnissen über deutsche Politik und Geschichte auch Kenntnisse der Verfassung und der Rechtsordnung nachzuweisen. Erfüllen sie alle Auflagen, so erhalten die Zuwanderer dennoch erst ein Bleiberecht auf Probe. Das wird entzogen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Jahren nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können.

Die Gemeinden betrachten diesen Stopp an Zufluss mit gemischten Gefühlen: Denn die persönliche Betreuung der neu ankommenden Migranten ist nun deutlich umfassender. Andererseits sind die Auswirkungen noch nicht dramatisch. Derzeit werden nach Auskunft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) immer noch Anträge bearbeitet, die vor 2005 eingereicht worden sind.

Aufenthalt »Viele Probleme ergeben sich vor allem für jüdisch-nichtjüdische Partnerschaften«, erklärt Anatoli Purnik, zuständig für Integrations- und Orientierungsseminare der ZWST. Vor 2005 konnte jeder mit einem jüdischen Hintergrund unbefristet in Deutschland bleiben und sein Partner ebenso. In Ehen mit nur einem jüdischen Partner erhält inzwischen lediglich dieser ein unbefristetes Aufenthaltsrecht – der andere nur ein befristetes. Heike von Bassewitz, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit bei der ZWST, sieht aus der Rückschau noch weitere Schwierigkeiten für Zuwanderer.

Einigen sei es in Deutschland nicht gelungen, eine eigene Existenz aufzubauen. »Lange Arbeitslosigkeit und damit verbundene psychosoziale Probleme waren deswegen keine Seltenheit unter Zu- wanderern«, sagt von Bassewitz. Ein Arbeitsfeld, in dem vor allem die Sozialarbeiter in den Gemeinden gefragt waren und noch sind. Eine Belastung und Herausforderung, die sie durch die neue Regelung heute nicht mehr haben.

geschlossen Dramatisch geschrumpft sei die jüdische Gemeinschaft noch nicht, sagt Alexander Sperling, Geschäftsführer der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund. Seine Gemeinde wachse zwar nicht mehr – nur im Rahmen der Familienzusammenführung kämen noch einzelne Personen –, sie habe sich aber auf einem durchaus hohen Niveau eingependelt, sagt Sperling. Allerdings verweist er auf die Schließung des Auffanglagers Unna-Massen. Dass es nicht mehr benötigt werde, zeige charakteristisch die Entwicklung. Früher war es für Tausende Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen erster Aufenthaltsort in Deutschland. Ende 2009 wurde es geschlossen.

Inzwischen werde alles dezentral über die Bezirksregierungen und in Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden geregelt, erklärt Sperling. Auf diese Weise könnten diese selbst aktiv bei der Integration mitwirken – und auch die Mitglieder stärker für die Gemeinde aktivieren.

umzüge Auch der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Essen, Hans-Hermann Byron, kann keinen rapiden Rückgang ausmachen. Allerdings zögen die Neumitglieder, die er in der Stadt begrüße, allerhöchstens aus anderen Gemeinden nach Essen zu. Die Gemeinde habe aber nach wie vor einen stabilen Bestand von mehr als 900 Mitgliedern.

Schwerer trifft der Zuwanderungsstopp die kleinen Gemeinden. Das erlebe er schmerzlich, sagt Max Privorotzky, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle. Seit 2005 habe es kaum noch Zuwachs in der Gemeinde gegeben. »Früher kamen bis zu 80 neue Zuwanderer im Jahr. Jetzt sind es – wenn es hochkommt – nur noch ein bis zwei.« Die jüdische Gemeinschaft in der sächsisch-anhaltinischen Landeshauptstadt sei von 750 Mitgliedern auf 639 geschrumpft.

Vielleicht aber, so meint ZWST-Mitarbeiter Purnik, sei Deutschland gar nicht mehr so attraktiv für Juden aus der GUS. Zumal sich die Situation in den Herkunftsländern verändert habe und es hier nach wie vor Probleme mit der Anerkennung von Abschlüssen gebe. Und ältere Menschen, die in den sowjetischen Nachfolgestaaten immer noch soziale Probleme hätten und gerne auswandern würden, könnten die gesetzlichen Auflagen erst recht nicht erfüllen. Sie aber dominieren jetzt schon die jüdischen Gemeinden. Eine Lösung bahne sich noch nicht an, sagt Purnik.

Berlin

Hommage an Broadway-Komponisten

Michael Alexander Willens lässt die Musik seiner Großväter während der »Internationalen Tage Jüdischer Musik und Kultur« erklingen

von Christine Schmitt  21.11.2024

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024