Die Idee für die Gedenktafel kam ihm auf dem Nachhauseweg. »Ich wollte eine Möglichkeit zum würdigen Erinnern schaffen, die zu dem Haus und seiner Geschichte passt«, sagt Simon Lütgemeyer und deutet auf die goldene Klingeltafel links neben dem Hauseingang. Direkt gegenüber von den grau-weißen Klingelschildern mit den Namen der heutigen Bewohner des Hauses in der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 in Prenzlauer Berg hängt seit Anfang Mai das von Lütgemeyer entworfene »stumme Klingeltableau«.
Dort aufgeführt sind die Namen von 83 ehemaligen jüdischen Mietern und Eigentümern, die von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Jahr 1939 Wohnungen in dem Haus bewohnten. Über den Namen steht auf Hebräisch der Satz »Ruhet in Frieden«. »Die jüdischen Bewohner des Hauses gehörten ganz selbstverständlich zur Nachbarschaft, bis sie von den Nationalsozialisten in den Tod oder die Emigration getrieben wurden«, sagt Lütgemeyer.
NACHFAHREN Der 45-jährige Architekt, der seit mehr als 20 Jahren in dem Altbau lebt, hat die Geschichte des Hauses und seiner einstigen jüdischen Bewohner erforscht. »Nachdem im Frühjahr des vergangenen Jahres vor unserem Nachbarhaus zwei Stolpersteine verlegt wurden, wollte ich mehr über die Geschichte unseres Hauses wissen«, erzählt Lütgemeyer. »Ich konnte ja nicht ahnen, welche dramatischen Schicksale sich hinter diesen Mauern verbergen.«
Ein Jahr lang hat Lütgemeyer nach Feierabend viele Stunden in Archiven und Bibliotheken verbracht. Am meisten geholfen haben ihm aber die Informationen, die ihm Nachfahren der Hausbewohner zur Verfügung gestellt haben. Seine Rechercheergebnisse hat er in einer Dokumentation zusammengetragen, die er noch bis vor Kurzem im Hausflur ausgehängt hatte. Zur feierlichen Einweihung des »stummen Klingeltableaus« im Mai waren einige der Nachkommen eigens aus den USA und Australien nach Prenzlauer Berg gereist.
Im Hausflur hat Lütgemeyer eine Ausstellung aufgebaut.
»Diese Menschen zu treffen, die teilweise noch ihre Kindheit und Jugend hier in dem Haus verbracht haben, war eine sehr emotionale Erfahrung für meine Familie und die gesamte Eigentümergemeinschaft«, sagt Lütgemeyer.
Als historisch interessierter Architekt ist es der gebürtige Westfale gewohnt, über die Hintergründe von Gebäuden und ihrer Bauherren zu forschen. Als geübter Spurensucher hatte Lütgemeyer schon nach wenigen Klicks im Internet entscheidende Informationen über sein Haus gefunden.
»Ich hatte zu Beginn meiner Recherche entdeckt, dass unsere Straße bis 1974 Lippehner Straße hieß«, sagt Lütgemeyer. Zu DDR-Zeiten war die Straße, deren ursprünglicher Name sich auf die kleine Westpommersche Ortschaft Lippehne bezog, zu Ehren der kommunistischen Widerstandskämpferin Käthe Niederkirchner umbenannt worden. Mit dem Suchbegriff »Lippehner Straße Hausnummer 35« wurde Lütgemeyer schnell in den Archiven fündig.
NS-ZEIT Aus der Bauurkunde geht hervor, dass das Haus 1903 von dem Berliner Maurermeister Herrmann Knoll errichtet wurde. Zwei Jahre später verkaufte Knoll das Haus an den Unternehmer Isidor Lewy, der in der Burgstraße am Stadtschloss eine Firma für Kinderbekleidung führte.
Mit dem Eigentümerwechsel beginnt die jüdische Geschichte des Hauses in der Lippehner Straße 35. »Isidor wohnte zusammen mit seiner Frau Lina und den beiden Töchtern Charlotte und Hildegard spätestens ab 1916 in einer Wohnung im zweiten Obergeschoss des Hauses«, sagt Lütgemeyer.
1939 bedrängten die Nationalsozialisten Lina Lewy, das Haus zu einem lächerlich niedrigen Preis von 127.000 Reichsmark zu veräußern.
Nachdem Isidor Lewy 1936 eines natürlichen Todes gestorben war, erbte seine Frau Lina das Haus. Inzwischen waren in Deutschland dunkle Zeiten angebrochen. Die zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren herrschenden Nationalsozialisten waren auf die Immobilie aufmerksam geworden. 1939 bedrängten die Nationalsozialisten Lina Lewy, das Haus zu einem lächerlich niedrigen Preis von 127.000 Reichsmark an einen »deutschen Volksgenossen« zu veräußern. »Der Preis lag völlig unter dem eigentlichen Wert des Hauses«, sagt Spurensucher Lütgemeyer. »Die Nationalsozialisten haben Familie Lewy enteignet.«
Lina Lewy konnte nach dem Verkauf zusammen mit ihren beiden Töchtern zunächst in der Lippehner Straße 35 wohnen bleiben. In den Folgejahren quartierten die NS-Behörden weitere jüdische Familien aus dem gesamten Berliner Stadtgebiet in dem Haus ein. »Das war eine gezielte Aktion, um die Menschen von diesem Ort aus leichter in den Osten deportieren zu können«, sagt Lütgemeyer. Im Viertel wurde das Haus Anfang der 40er-Jahre »Judenhaus« genannt.
SCHICKSALE Am 3. Oktober 1942 wurde Lina Lewy zusammen mit einem Transport von 1021 anderen Menschen vom Güterbahnhof Moabit unterhalb der Putlitzbrücke in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Aus den Akten geht hervor, dass sie dort im November an Herzmuskelschwäche verstarb. Die Töchter Hildegard und Charlotte wurden von der Lippehner Straße 35 aus am 1. und 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert. Beide wurden wohl unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.
Ende 1941 konnten Peter und Werner mit einem Segelschiff in die USA emigrieren. Ihre Mutter haben die beiden niemals wiedergesehen.
Die beiden Söhne Charlottes, Peter und Werner, die aus der kurzen Ehe mit dem jüdischen Magistratsrat Max Gossels hervorgegangen waren, hatte Charlotte im Sommer 1939 in Sicherheit bringen können, nachdem sie für drei Jahre mit ihrer Mutter und Tante in der Wohnung ihrer Großmutter gelebt hatten. Die Hilfsorganisation »Comité Israelite« hatte sich der beiden Jungen zunächst in Frankreich angenommen.
Ende 1941 konnten Peter und Werner mit einem Segelschiff in die USA emigrieren. Ihre Mutter haben die beiden niemals wiedergesehen.
GEDENKTAFEL Im Mai waren die Schoa-Überlebenden Peter und Werner Gossels, heute 88 und 85 Jahre alt, zur Einweihung der Gedenktafel an ihrem ehemaligen Wohnhaus nach Prenzlauer Berg gekommen. »Ich glaube, mit der Anbringung der Gedenktafel hat sich für die beiden in gewisser Weise ein Kreis geschlossen«, sagt Lütgemeyer.
Durch seine Spurensuche sind er und die Brüder Gossels enge Freunde geworden. Die beiden haben ihn zu sich nach Massachusetts eingeladen. Diese Einladung möchte Lütgemeyer gerne annehmen und mit einem Besuch an der Brandeis University bei Boston verbinden.
Die Universitätsleitung ist inzwischen auf die Forschung aufmerksam geworden und hat ihn ebenfalls eingeladen – um mehr über ihn und sein Rechercheprojekt zu erfahren.