Warum eine Geschichte nicht gleich mit Maimonides beginnen, wenn man es kann? Denn diese Geschichte über Andreas Tölke ist auch eine über Zedaka. Der Rambam sagt, dass Zedaka – die Wohltätigkeit, der Juden verpflichtet sind – einer Leiter mit acht Sprossen gleicht. Die niedrigste Stufe ist das »widerwillige Geben«. Stufe fünf wäre beispielsweise, dass »der Bedürftige weiß, wer ihm geholfen hat, aber der Gebende weiß nicht, wem er Gutes getan hat«.
Sprosse acht auf der Zedaka-Leiter
Sprosse Nummer acht schließlich, die höchste auf der Zedaka-Leiter, bedeutet, »der Gebende ermöglicht dem Bedürftigen, sich selbst zu helfen«. In den vergangenen fünf Jahren hat sich Andreas Tölke aus Berlin schwungvoll und steten Schrittes auf Sprosse acht vorgearbeitet. Und das, ohne überhaupt zu wissen, was Zedaka ist. Was wiederum zu seiner eigenen Geschichte gehört.
Im Herbst 2015, als Tausende geflüchtete Menschen verzweifelt versuchten, im völlig überforderten Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) vorstellig zu werden, war Tölke ein angesehener Lifestyle-Journalist, der durch die Welt jettete, um Hochglanzmagazine wie »Vogue« und »Icon« mit Geschichten über kreative Menschen und schöne Dinge zu versorgen.
Doch die Menschen und Dinge, die er da gerade im Fernsehen sah, rissen ihn aus seinem luxuriösen Single-Leben mit französischer Bulldogge in seinem 112-Quadratmeter-Apartment. Er rief eine Bekannte bei der Hilfsorganisation »Moabit hilft« an und sagte den wunderbaren Satz: »Ich will helfen!«
Insgesamt 400 Geflüchtete haben sich in den folgenden Monaten und Jahren bei ihm ausgeruht.
Eine halbe Stunde später standen fünf Menschen vor der Tür, denen Tölke sein Wohnzimmer mit dem Armani-Sofa überließ. Insgesamt 400 Geflüchtete haben sich in den folgenden Monaten und Jahren bei ihm ausgeruht. Mal eine Nacht, mal eine Woche. Damit sie nicht auf der Straße schlafen mussten, bis die Behörden morgens wieder öffneten.
Doch Tölke merkte schnell, dass es nicht reichte. Der deutsche Behördendschungel, die Gesetze, die immer schärfer werden – um die größte Not möglichst schnell zu lindern, um tatsächlich irgendwann einmal ankommen zu können, brauchten die Geflüchteten Hilfe von Experten. Also gründeten Tölke und Mitstreiter zusammen das Netzwerk »Be an Angel e.V.«, das fortan ehrenamtlich Unterstützung bei der Schlafplatz-, Rechtsmittel-, Wohnungs- und Deutschkurssuche bot.
Doch Tölke reichte das immer noch nicht. Wenn die Geflüchteten sich nichts aufbauen konnten, weil sie zum Warten verdammt waren, wie sollten sie ihren Platz in dieser Gesellschaft finden? Also schob Tölke das Restaurant »Der Kreuzberger Himmel« an, wo Flüchtlinge arbeiten, ausgebildet werden und das sie führen. »Vom Geflüchteten zum Geschäftsführer, vom Praktikanten zum Hotelfachmann im Sheraton« lautet das Konzept. »Wir machen Türen auf, durchgehen musst du selbst«, beschreibt es Tölke. Die Belohnung sei, dass er »überflüssig« werde.
Im Januar 2018 öffnete der »Himmel« und avancierte schnell vom Geheimtipp zum dauernd ausgebuchten In-Lokal. Und wegen des großen Erfolges gab es ab Februar 2020 den Ableger »Himmel 8«, ein Deli.
Dann kam die Pandemie
Dann kam die alles lähmende Corona-Pandemie. Wie Sie sich sicher schon denken, hielt das Tölke nicht auf. Wer braucht jetzt besondere Unterstützung? Die Obdachlosen Berlins.
Seit März 2020 hat die »Familie« des Kreuzberger »Himmel«, aktuell 19 Menschen aus neun Nationen, mehr als 73.000 Mahlzeiten zubereitet und an Menschen verteilt, die auf der Straße leben. Zuerst unterstützt von »Aktion Mensch«, dann finanziert vom Berliner Senat. Die Unterstützung für das Projekt ist nun ausgelaufen. Corona und die Not sind noch da. »Ich bin mir sicher, dass wir es schaffen. Aber das ist meiner Grundhaltung geschuldet«, sagt Tölke.
Wo diese Grundhaltung und dieser unbedingte Wunsch zu helfen eigentlich herkommen, darüber ist sich der 60-Jährige erst seit weniger als zwei Jahren im Klaren. »Natürlich wurde ich immer wieder gefragt, warum ich das mache. Und ich habe immer stante pede geantwortet: Weil man das machen muss. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, was das mit mir zu tun haben könnte.«
Bis Benyame (Name von der Redaktion geändert) nach Berlin kam, einer der wohl letzten Juden im Norden des Irak. Der völlig traumatisierte Mann erreichte die Hauptstadt einige Monate vor dem Ausbruch der Pandemie. Auch er fand in Tölkes Wohnzimmer den ersten sicheren Ort. »Plötzlich hatte ich einen gläubigen jüdischen Menschen bei mir leben, für den bestimmte Sachen Alltag waren. Für mich waren sie exotisch. Er weiß, wie oft man sich die Hände wäscht, geht fast täglich in die Synagoge«, erzählt Tölke. Einmal begleitete er Benyame, »das war ein bisschen Annäherung, aber trotzdem fremd. Ich kenne die Gebete nicht. Ich hatte das Gefühl: Ich bin der ›schlechte Jude‹.«
»Und Jude bist du auch noch«
1969 war Andreas Tölke neun Jahre alt und lag eines Abends mit einer eitrigen Zahnwurzelentzündung im Bett, als seine Mutter sich zu ihm setzte und mit Tränen in den Augen sagte: »Und Jude bist du auch noch.« Während die Zahnwurzel am nächsten Tag behandelt wurde, wurden die Familienwurzeln genauso schnell wieder verdeckt, wie sie offenbart worden waren. Ursula Tölke, Jahrgang 1925, war als Kind in Nazi-Deutschland Ausgrenzung und Angriffen ausgesetzt, sie hatte die Schoa im Versteck überlebt. Ihre Mutter, Suse Sarah Löwentraut, geborene Loewe, war von den Nazis verschleppt und ermordet worden.
Die Motivation seines Engagements wurzelt in seiner jüdischen Familiengeschichte.
»In meiner Biografie war Jude ein Schimpfwort«, sagt Tölke. »Ich bin aufgewachsen in der hessischen Provinz mit einer jüdischen Mutter, die nicht jüdisch war, weil sie sich versteckt hat, weil man es ihr nicht anmerken durfte. Sie hat das Thema tabuisiert.« Trotzdem habe sie immer das Gefühl gehabt, fremd im eigenen Land zu sein. »Und dieses Fremdsein hat sie mir weitergegeben. Ich hab dann genau das getan, was meine Mutter gemacht hat: Ich habe es verdrängt, ich habe mich mit allem auseinandergesetzt, nur damit nicht. Ich habe aus der Geschichte meiner Familie nie ein Hehl gemacht, aber das war immer abstrakt. Jedes Mal, wenn ich ›Jude‹ gehört habe, bin ich zusammengezuckt.«
50 Jahre nach der doppelten Wurzelbehandlung habe Benyame, der Jude aus dem Irak, ihm die Tür geöffnet. Er habe endlich angstfreier die Nähe zum Judentum gesucht, sagt Tölke. »Ich durfte einen ›vollständigen‹ Juden begleiten und zuschauen und trotzdem sagen, eigentlich bin ich ja auch einer von euch. Das war eine ganz schöne Position. Dann habe ich rückabgewickelt und mir angeschaut, wo meine Schuld liegt. Denn ich empfinde es als Verrat an meiner Familie, dass ich so wenig über Tradition und Gebräuche weiß, dass ich mich so wenig damit auseinandergesetzt habe.«
Das tut er nun. In kleinen, immer sicherer werdenden Schritten, mal mit Kippa, mal ohne. »Dieser lange Weg hin zu einem ganzen Menschen, das hätte ich auch früher haben können!«, sagt Tölke und lacht.
Dann wird er ernst und gibt seine neue Antwort auf die Frage, warum er denn sein Leben umgekrempelt hat, um Geflüchteten zu helfen: »Jeder Mensch hat das Recht auf Flucht. Hätte jemand meiner Großmutter geholfen, wäre sie nicht in Auschwitz ermordet worden, und dann wären meine Mutter und auch ich in einer vollständigen Familie aufgewachsen.«