Fünf Minuten mit

Soziologin Karen Körber

Frau Körber, in den 90er-Jahren sind etwa 200.000 Juden aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Wie hat das die jüdischen Gemeinden verändert?
Ohne die Zuwanderer hätten einige Gemeinden gar nicht überleben können. Das ist aber längst noch nicht alles. Wenn man sich anschaut, wer heute dort aktiv ist, dann sind das überwiegend die »Neuen«. Sie prägen das Gesicht der Gemeinden in einer ganz fundamentalen Weise.

Inwiefern?
Sie sitzen in den Gemeindevorständen, kommen zu den Vorstandswahlen, initiieren kulturelle Veranstaltungen aller Art und stellen die Mehrheit sowohl in den Seniorenclubs wie in den Jugendzentren.

Und wie haben die Gemeinden ihre neuen Mitglieder geprägt?
Wären die Gemeinden nicht gewesen, dann hätte ein Großteil der Zuwanderer – insbesondere die älteren unter ihnen – keine Anlaufstelle gehabt. Für viele sind die Gemeinden daher bis heute ein Stück Heimat. Auch wenn das vielleicht nicht immer die Form von Heimat ist, die sich die Gemeinden wünschen.

Was heißt das?
Sie bringen ein jüdisches Selbstverständnis mit, das stark in der russischen Kultur verankert ist. Insofern herrscht oftmals ein eher pragmatisches Verhältnis zu den hiesigen jüdischen Gemeinden vor. Man ist bereit, den Rahmen zu akzeptieren, den die Gemeinden bieten, wenn umgekehrt gewährleistet wird, dass in diesem Rahmen genügend Platz für die Formen kultureller Selbstverständigungen gewährt wird.

Kommt es dabei zu Konflikten?
Ja, Gerade die Alteingesessenen fühlen sich oft in die Defensive gedrängt, weil sie plötzlich in der Minderheit sind. Da kann die Reaktion auf die Zugewanderten bisweilen recht scharf ausfallen: dass sich die Zuwanderer der deutschen Sprache verweigerten oder nur die Hand aufhielten.

Ein Vorurteil lautet, die Zuwanderer seien nicht religiös. Stimmt das?
In der Sowjetunion galt das Judentum als Nationalität, in Deutschland ist es eine Religionsgemeinschaft. Die russischsprachigen Juden definieren sich in erster Linie über ihre ethnische Zugehörigkeit als Juden und haben ein eher distanziertes Verhältnis zur jüdischen Religion und Tradition. Dieses Selbstverständnis verändert sich bei den jüngeren Zuwanderern, die nach 1990 bereits in der Sowjetunion Kontakt zu Organisationen hatten, die Zugang zu jüdischem Leben vermittelt haben.

Stärkt das die Gemeinden heute?
Es fällt auf, dass diejenigen, die sich für Religion interessieren, dies nicht unbedingt innerhalb der Gemeinden tun, die im Zentralrat der Juden organisiert sind. Wir finden sie etwa bei Chabad, in Internetforen oder in den liberalen Gemeinden.

Wie wichtig ist die russische Herkunft?
Es ist ein selbstverständlicher Bestandteil der familiären Geschichte. Es gibt Traditionen, die gepflegt und andere, die belächelt werden. Gerade unter den älteren Zuwanderern ist die Identifikation mit der russischen Herkunft stark, das zeigt die Vorliebe für russische Fernsehsender ebenso wie die ordensgeschmückte Brust am 9. Mai.

Was verbindet Alte und Neue?
Viel mehr als sie denken. Die Geschichte der Nachkriegsgemeinden war geprägt von der schwierigen Einigung osteuropäischer und deutschstämmiger Juden, die in dem Bemühen um Vergemeinschaftung wiederholt auf die Grenzen unterschiedlicher Erfahrungen und Überzeugungen gestoßen sind. Ebenso gilt für die russischsprachigen Juden, dass jenseits der gemeinsam geteilten Sprache die Unterschiede groß sind. Wir haben es also mit einem Prozess der Pluralisierung zu tun, in dem es vor allem darum geht, Formen der Verständigung und des Austauschs miteinander zu finden.

Das Gespräch führte Katrin Richter.

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung

von Christine Schmitt  13.03.2025

Bundeswehr

»Jede Soldatin oder jeder Soldat kann zu mir kommen«

Nils Ederberg wurde als Militärrabbiner für Norddeutschland in sein Amt eingeführt

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Hamburg

Hauptsache kontrovers?

Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wurde die »Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 2025 – 5785/5786« eröffnet. Die Preisträger sind in der jüdischen Gemeinschaft umstritten

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Purim

Schrank auf, Kostüm an

Und was tragen Sie zum fröhlichsten Fest im jüdischen Kalender? Wir haben uns in der Community umgehört, was in diesem Jahr im Trend liegt: gekauft, selbst gemacht oder beides?

von Katrin Richter  13.03.2025

Feiertag

»Das Festessen hilft gegen den Kater«

Eine jüdische Ärztin über Alkoholkonsum an Purim und die Frage, wann zu viel wirklich zu viel ist

von Mascha Malburg  13.03.2025

Berlin

Persien als Projekt

Eigens zu Purim hat das Kunstatelier Omanut ein Wandbild für die Synagoge Pestalozzistraße angefertigt

von Christine Schmitt  13.03.2025

Wilmersdorf

Chabad Berlin lädt zu Purim-Feier ein

Freude sei die beste Antwort auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 12.03.2025

Purim

An Purim wird »We will dance again« wahr

Das Fest zeigt, dass der jüdische Lebenswille ungebrochen ist – trotz der Massaker vom 7. Oktober

von Ruben Gerczikow  12.03.2025

In eigener Sache

Zachor!

Warum es uns besonders wichtig ist, mit einer Sonderausgabe an Kfir, Ariel und Shiri Bibas zu erinnern

von Philipp Peyman Engel  11.03.2025 Aktualisiert