Armut

Sorge um die Grundsicherung

Rente und Grundsicherung reichen oftmals nicht für die Lebenshaltungskosten aus. Foto: Getty Images / istock

Evgeny Karchemnik ist ein freundlicher älterer Herr mit einem leicht verschmitzten Lächeln, umrahmt von einem grauen Kinnbart. Ein jüdischer Zuwanderer. 2004 kam er aus St. Petersburg an den Rhein. Seine Kinder waren bereits vorher nach Deutschland ausgewandert. In Köln-Ehrenfeld fand er eine neue Heimat. Er gehört der Synagogen-Gemeinde an. Inzwischen ist der ehemalige Radiologe Mitglied im Bundesverband der Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Kölner Vorsitzender des Vereins der Überlebenden der Leningrader Blockade.

Der 78-Jährige ist Rentner und lebt mit seiner Frau in einer Sozialwohnung in der Nähe des jüdischen Gemeindezentrums. »Ich fühle mich wohl«, sagt er mit russischem Akzent. Stress bereitet ihm nur immer wieder seine finanzielle Situation, sein Lebensunterhalt ist nicht ausreichend gesichert. Karchemnik ist einer von geschätzt 10.000 bis 15.000 jüdischen Zuwanderern – exakte Zahlen gibt es bislang nicht –, die im Alter nicht genug Einkommen haben und für ihren Lebensunterhalt auf Grundsicherung angewiesen sind.

27 Jahre hat der heutige Pensionär rentenpflichtig gearbeitet – in Russland. In Deutschland hat er in seinem Beruf nie eine Anstellung erhalten und keinen deutschen Rentenanspruch erworben. Aufgrund seiner gefährlichen Arbeit als Radiologe konnte er 1995 in Rente gehen, mit umgerechnet 200 Euro keine schlechte Rente für damalige russische Verhältnisse. Vor fünf Jahren erhielt er noch über 300 Euro. Heute fressen die Wirtschaftskrise und der Verfall des Wechselkurses seine Rente aus Russland auf.

LEBENSHALTUNGSKOSTEN Das Geld reicht nicht, um Miete, Betriebs- und Lebenshaltungskosten in Köln zu decken. Doch der Mann mit der sonoren, leisen Stimme klagt nicht. Als Jude konnte er aufgrund der Regelung für jüdische Zuwanderer nach Deutschland einreisen. Seitdem hat der Überlebende der fast 900 Tage dauernden Leningrader Blockade durch deutsche Truppen aufgrund der Einwanderungsregelung sogar Anspruch auf Zahlungen durch den örtlichen Träger der Sozialhilfe.

Da aber nur einmal am Ende des Quartals seine Rente aus Moskau überwiesen wird, muss diese laufend angepasst werden. »Es ist immer wieder ein Kampf mit dem Sozialamt, denn eigentlich erhalten wir jeden Monat die russische Rente, aber wir haben sie nicht zur Verfügung«, klagt der rüstige Zuwanderer. »Ärger und Diskussionen haben fast alle Zuwanderer«, sagt Elena Kernitskaya, Mitarbeiterin der Sozialabteilung der Synagogen-Gemeinde. »Mal wird die dreimonatliche russische Rente einfach als monatlicher Betrag angerechnet, dann wiederum zeigt der Sachbearbeiter oder die Sachbearbeiterin kein Verständnis dafür, dass das Geld knapp ist, weil aus Russland keine Rente gekommen ist.« Außerdem wird die Grundsicherung dann auch noch um die Rente reduziert.

So wohl Evgeny Karchemnik sich in seiner neuen Heimat fühlt, so ungerecht sieht er sich im Vergleich zu den Spätaussiedlern behandelt, die zur gleichen Zeit wie er aus Russland ausgewandert sind. Würde sein Rentenanspruch auf Grundlage seines Berufs als Radiologe und seines Rentenanspruchs auf Grundlage deutscher Einkommensverhältnisse berechnet, »wäre ich nicht mehr auf Unterstützung durch das Sozialamt angewiesen. Warum behandelt man uns so ungleich?«, fragt der 78-Jährige verbittert. Spätaussiedler werden zudem 25 Rentenpunkte nach dem sogenannten Fremdrentengesetz für ihre beruflichen Tätigkeiten in der Sowjetunion anerkannt.

Spätaussiedler erhalten
25 Rentenpunkte, jüdische Kontingentflüchtlinge nichts.

Der Leiter des Berliner Büros der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST), Günter Jek, kann die Empörung gut verstehen. Die rechtliche Situation sei jedoch aufgrund der unterschiedlichen Aufnahmeregelungen ausgesprochen kompliziert, sagt Jek. »Um eine für die jüdischen Zuwanderer notwendige und ihre Würde wahrende Regelung zu finden, ist das Fremdrentengesetz in seiner bestehenden Form nicht geeignet.« Die heutige heikle finanzielle und soziale Situation der jüdischen Zuwanderer brauche vielmehr eine »eigenständige, in der deutschen Geschichte begründete Lösung«, betont Jek.

BENACHTEILIGUNG Seit Jahren fordern die ZWST und der Zentralrat der Juden in Deutschland eine »Beendigung der sozialrechtlichen Benachteiligung jüdischer Zuwanderer«. Außerdem wäre es ein Fortschritt, wenn endlich mit einem deutsch-russischen Sozialversicherungsabkommen die Problematik des Transfers russischer Renten vereinfacht würde. Evgeny Karchemnik hat noch »Glück«. Seit 2015 überweist die russische Regierung nur noch Renten ins Ausland an frühere russische Staatsbürger, wenn diese vor dem Stichtag schon in einem Land außerhalb der Russischen Föderation Rente bezogen haben. Wer danach Rentenanspruch beantragt hat, erhält sein Geld nur noch auf ein Konto in Russland ausgezahlt.

Mari Kogan (Name von der Redaktion geändert) ist ebenfalls Rentnerin und lebt in Köln. Die 81-Jährige kann ihr Geld nur noch auf einem Konto bei einer Moskauer Bank deponieren.

Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung veröffentlicht wissen, da sie Angst hat, dies könnte Auswirkungen auf ihre Grundsicherungszahlungen durch das Sozialamt haben. Die ehemalige Pädagogin ist alleinstehend, lebt in einer Einzimmerwohnung und erhält Grundsicherung. Sie muss zusehen, wie sie an die Rente aus Moskau kommt, denn auch, wenn sie keinen direkten Zugriff auf ihr Konto hat, wird ihr natürlich die karge Rente jeden Monat von der Grundsicherung abgezogen.

»Was passiert, wenn ich älter werde und nicht mehr reisen kann? Das ist doch ungerecht. Das muss das Sozialamt doch berücksichtigen«, sagt sie. Ihre Hände zittern, sie ist aufgeregt und in ärztlicher Behandlung gegen ihre Angst, die ihr die soziale Unsicherheit täglich bereitet. Frau Kogan, berichtet Elena Kernitskaya, ängstige sich vor der Zukunft. »Was soll ich machen? Ich brauche doch Geld, um zu leben und mir die notwendigen Dinge des alltäglichen Lebens leisten zu können«, sagt Mari Kogan.

ÄNGSTE Der Gemeindemitarbeiterin Kernitskaya bereitet das Schicksal von Mari Kogan hörbar Sorgen. Plötzlich wurden die Grundsicherungszahlungen eingestellt, »weil das Sozialamt fälschlicherweise die Summe für drei Monatsrenten als monatliche Rente angerechnet hat«. Ein Versehen, bei Mari Kogan löst dies jedoch eine persönliche Krise aus.

Etwas Ähnliches hat Tatjana Rabinovitsch (Name geändert) erlebt. Sie ist 72 Jahre alt, hat Fremdsprachen studiert und als Englischlehrerin in einer Industriestadt 500 Kilometer südlich von Moskau gelebt und gearbeitet. Ihre Mutter ist hilfsbedürftig und lebt im Elternheim der Synagogen-Gemeinde Köln. Tatjana Rabinovitsch ist 2005 nach Köln gezogen. Sie erhält eine kleine Rente: Vor 13 Jahren waren die 2150 Rubel Rente noch 65 Euro wert, heute sind es gerade einmal etwa 28 Euro. Tendenz fallend.

»Ich habe keine guten Deutschkenntnisse«, sagt sie bedauernd. Ein Manko, das Auswirkungen auf die Korrespondenz hat. »Manchmal verstehen die Zuwanderer Teile der Anträge nicht richtig, kreuzen etwas falsch an, und schon werden die Auszahlungen zum Lebensunterhalt gesperrt«, erklärt Elena Kernitskaya.

BERECHNUNG Die Überweisungen aus Russland wurden der Zuwanderin einfach als Einkommen und nicht als Rentenzahlung bewertet. »Sie haben mir vorgeworfen, ich wollte die deutsche Rentenkasse betrügen«, erzählt Kogan mit verzweifelter Stimme. »Dabei habe ich doch nur versucht, alles richtig zu machen«, sagt sie. Und dann lag plötzlich eine Rückzahlungsaufforderung des Sozialamts in ihrem Briefkasten. Deshalb ist sie auch froh, dass die Mitarbeiter in der Sozialabteilung sie betreuen und bei ihren Gesprächen mit dem Sozialamt begleiten.

»Es war eine politische Entscheidung, den Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu erlauben, nach Deutschland zuzuwandern«, sagt Elena Kernitskaya. »Aber jetzt muss die Situation endlich gesetzlich geregelt werden.«

Berlin

Hommage an jiddische Broadway-Komponisten

Michael Alexander Willens lässt die Musik seiner Großväter während der »Internationalen Tage Jüdischer Musik und Kultur« erklingen

von Christine Schmitt  21.11.2024

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024