Der kleine Raum ist spartanisch eingerichtet; dennoch wirkt er hell und freundlich. An den Wänden stehen blaue Stühle zusammengeschoben, sodass mehr Platz ist für Whiteboard und Kennenlernspiele. 15 junge Madrichim sind an diesem Wochen-
ende zum Vorbereitungsseminar von »Jewish ArtEck« (J-ArtEck) gekommen – einem internationalen Sommercamp für russischsprachige jüdische Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren.
Die Sommerfreizeit gibt es mittlerweile seit neun Jahren; im August findet sie zum zehnten Mal statt. Seit Januar ist der dazugehörige Bildungsverein in den Räumen der Europäischen Janusz Korczak Akademie im Nikolaiviertel, in Berlins Mitte, untergebracht. Der Name ArtEck geht zurück auf »Artek«, ein früheres internationales Sommercamp in der Sowjetunion.
Inzwischen sind die ersten Teilnehmer eingetroffen. Einige von ihnen begegnen sich an diesem Wochenende zum ersten Mal. Um einander besser kennenzulernen, wirft Esther einen kleinen Ball zu Ella und nennt dabei ihren eigenen Namen. Alle anderen hören aufmerksam zu und versuchen, ihn sich zu merken. Ella Nilova jedoch kennt alle, und alle kennen sie, denn die Pädagogin leitet das Projekt: Vor neun Jahren hat sie J-ArtEck initiiert. Seitdem kümmert sie sich jedes Jahr aufs Neue um die Finanzierung – durch Sponsoren, Stiftungen, das Auswärtige Amt und das Land Brandenburg, damit 67 Jugendliche aus verschiedenen Ländern elf unvergessliche Tage im August erleben können.
Die Sommerfreizeit stehe jüdischen und nichtjüdischen Familien offen, sagt Nilova. Während dieser Zeit will das J-ArtEck-Team den Teilnehmern jüdische Kultur, Traditionen und Geschichte näherbringen sowie bei den Kindern von Auswanderern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion den Erhalt der russischen Sprache unterstützen, sagt die Leiterin.
austausch Die 52-Jährige wirft den Ball zu Alexandra, die schmeißt ihn kichernd zu Nicole, die ihn wiederum in Maxims Richtung katapultiert. Ein winziger Zeitungsartikel sei verantwortlich dafür, dass er von diesem Camp überhaupt erfahren habe, sagt Maxim Nicolaev später. »Meine Mutter las etwas darüber und fragte mich, ob ich mitfahren möchte.« Das ist nun vier Jahre her. Seitdem ist Maxim jedes Jahr dabei. »Es hat mir von Anfang an gut gefallen«, erzählt der 17-jährige Gymnasiast.
Das Beste sei es, Jugendliche aus anderen Ländern zu treffen. »Wir sehen uns wirklich, reden miteinander, verbringen zusammen Zeit – und tauschen uns nicht nur übers Internet aus.« Denn das ist das Besondere am Sommerferienlager von J-ArtEck: Die Jugendlichen kommen aus mehreren Ländern – 20 von ihnen reisen jeweils aus Russland, Israel und Deutschland an. In diesem Jahr werden außerdem Kinder aus den USA, der Ukraine, England und Dänemark in die Schorfheide nach Brandenburg fahren. Da alle mehr oder weniger gut Russisch sprechen, wird diese Sprache während der Zeit auch die Hauptsprache sein. Die 13 Erwachsenen, die das Camp betreuen werden, stammen aus Israel, Russland und Deutschland.
In diesem Jahr will Maxim als Helfer der Madrichim mitfahren, aber beim nächsten Mal schon als Gruppenleiter. »Ich will auch etwas zurückgeben«, sagt der 17-Jährige. Er sei zwar jüdisch und an jüdischer Kultur interessiert, aber überhaupt nicht religiös. Im Gemeindehaus oder Jugendzentrum Olam sei er bislang noch nicht gewesen – was vielleicht auch daran liegt, dass er erst seit Kurzem in Berlin lebt, denn er stammt ursprünglich aus Moldawien und verbrachte die ersten Jahre nach seiner Auswanderung in Cottbus.
Madricha Maxim wirft den Ball derweil weiter zu Stas. Der Musiker aus Israel leitet das Seminar an diesem Tag und überreicht den Ball Esther. Deren Familie kommt aus Moskau. Esther studiert derzeit Russisch und Deutsch auf Lehramt. »Das Programm von ArtEck gefällt mir gut«, schwärmt sie später. Früher als Kind ist sie auch gerne mit der ZWST auf Machanot gefahren. »Das fand ich super. Derzeit interessiert mich aber mehr der Austausch mit Leuten aus anderen Ländern.« Deshalb fährt die 20-Jährige als Madricha nach Brandenburg mit. Ein Programm aufzustellen, sei richtig viel Arbeit. Oft hätten sie und die anderen bis in die Nacht hinein diskutiert und weiter daran gefeilt.
Denn jede Ferienfreizeit steht unter einem bestimmten Motto – im vergangenen Sommer war es »Jiddischland. Auf den Spuren einer zerstörten Sprachkultur«. Es gab dazu Ausflüge nach Berlin und in die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Bei jeder Freizeit musizieren die Jugendlichen immer viel, sind kreativ, stellen beispielsweise Postkarten und Scherenschnitte her – hier findet das »Art« im Namen der Sommerfreizeit seinen Ausdruck. Außerdem wird gepaddelt, im See geschwommen und Ball gespielt. In diesem Jahr steht das Thema »50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland« im Mittelpunkt.
Der kleine Ball macht seine Runde. Von Alex zu Dennis, von ihm zu Elisabeth. »Jetzt ändern wir das Spiel, jeder soll den Namen desjenigen nennen, zu dem er den Ball wirft«, sagt Stas auf Russisch. Denn auch an diesem Nachmittag wird Russisch gesprochen. Der Ball geht erst einmal zu Alex – diesen Namen kann man sich gut merken. »Esther«, sagt Alex. Die 20-Jährige wirft den Ball zu Dennis.
sprache Vor elf Jahren wanderten die Brüder Dennis und Ilja Buschujew aus Russland aus, zuerst kamen sie nach Rostock, später nach Berlin. »Der Anfang war hart«, erinnert sich Dennis, heute 21 Jahre alt und Jurastudent. Denn beide Brüder konnten kein Wort Deutsch und mussten sich erst einmal einleben. Das ist nun schon ein paar Jahre her.
Im Sommercamp lernt Dennis andere Menschen und Kulturen kennen – das fasziniert ihn immer wieder. Dass Russisch gesprochen wird, gefalle ihm, denn er ertappe sich manchmal dabei, dass er einige Wörter seiner Muttersprache vergisst. Sein Bruder Ilja, heute 18, erinnert sich noch, wie er als kleiner Junge immer wieder seine Mutter traurig fragte, warum sie nach Deutschland ziehen mussten.
Doch das gehört der Vergangenheit an. Er hat gerade sein Abitur am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn gemacht und hofft, noch als Madrich in die Schorfheide mitfahren zu können, obwohl er ein Vorbereitungsseminar wegen der Prüfungen verpasst hat. Wenn die Brüder eine Synagoge besuchen, dann die in der Joachimstaler Straße oder bei Chabad am Alexanderplatz.
Nun wirft Dennis den Ball wieder zu Ella Nilova. In der Ukraine war sie Englischlehrerin und gründete dort eine Sonntagsschule, »in der die Kinder über unsere eigene Geschichte etwas lernen sollten«, sagt die Mutter von zwei erwachsenen Töchtern. Zusammen mit ihrer Familie kam Nilova in den 90er-Jahren als Kontingentflüchtling nach Rostock, wo sie ehrenamtlich wieder in einer Sonntagsschule mitarbeitete. Als sie nach Berlin umzog, hatte sie die Idee eines internationalen Sommercamps.
Damals, vor knapp zehn Jahren, wurde es zuerst vom damaligen »Weltkongress russischsprachiger Juden« finanziert. Doch den gibt es seit 2010 nicht mehr. Seit fünf Jahren schreibt Ella Nilova Stiftungen an, um die Gelder zusammenzubekommen. Zudem müssen die Teilnehmer eine Gebühr bezahlen. »Ich brauche immer sechs Monate Vorbereitungszeit«, sagt sie. Auch, um Aktivitäten rund um das Jahresmotto zu organisieren.
pädagogik Anfang 2015 ist J-ArtEck unter das Dach der Europäischen Janusz Korczak Akademie gezogen, und Ella Nilova ist neben ihrer Aufgabe bei J-ArtEck zugleich auch Projektleiterin von »Gelebte Vielfalt und Anerkennung«, einem Projekt, das sich mit historischen Vorbildern bedeutender jüdischer Persönlichkeiten in Deutschland auseinandersetzt.
Das Konzept von J-ArtEck basiert auf den Überzeugungen des Pädagogen Janusz Korczak: »Respekt gegenüber Kindern, Einheit von Theorie und Praxis und Erziehung in kreativer Zusammenarbeit«, erklärt die Projektleiterin. Für diesen Sommer wollten sich mehr als 100 Kinder anmelden, doch nur für 67 reicht der Platz.
Mittlerweile ist das Spiel zu Ende gegangen. Dennis, Alex, Esther, Maxim und Stas sind sich nun nicht mehr fremd und bestens vorbereitet, wenn sie im August gemeinsam in die Schorfheide fahren.
www.j-arteck.org