Pro – Rabbiner Andreas Nachama meint: Die Gesellschaft sollte eines Tages mit einem interreligiösen Feiertag an die Corona-Pandemie erinnern.
Deutschland, Europa, ja die Welt kämpft mit einer Epidemie und ihren Folgen. Es ist ein Kampf, in dem gewohnte Strukturen wie Sand im Wind verwehen. Lockdown von jetzt auf gleich: Wochenlang blieben die Türen der Synagogen genauso verschlossen wie die von Moscheen und Kirchen.
Und doch haben die Menschen, die ihre Gebete und Traditionen im Herzen mit sich trugen, gebetet. Öffentlich fand das eher mit Hörfunk-, Fernseh- oder Livestream-Angeboten statt. Selbst bei Beerdigungen war kaum das Gebetsquorum von zehn Juden möglich. Aber ich habe erlebt, wie trotzdem getröstet und Anteil genommen wurde, über Telefon oder andere Medien.
Arbeit Alles, was bis dahin selbstverständlich war, der Gang zur Arbeit und das Miteinander im Büro, in der Werkstatt oder in der Klasse, all das war nicht mehr möglich. Es traf Säkulare wie Juden, traf Christen wie Muslime oder auch Gläubige anderer Religionen, arm wie reich, Fromme wie Freigeister. Und es raffte Menschen dahin: mitten aus dem blühenden Leben, wie auch andere, die schon schwach, aber eben doch nicht todkrank waren.
»Einen gesetzlichen interreligiösen Feiertag einzuführen, wäre ein Zeichen.«
Rabbiner Andreas Nachama
Alle Gewohnheit und Sicherheit unserer Gesellschaft war dahin – von jetzt auf gleich. Und doch gab es eine Form der Solidarität. Nachbarn organisierten Lebensmitteleinkäufe für Menschen in Quarantäne, es wurden Telefonketten gebildet, um die zu erreichen, die allein waren. Dann kamen die Masken, die aus der völligen Separierung nur Sichtdistanz machten, und es kam ein Sommer.
Restaurants Mit den Erleichterungen öffneten Synagogen und andere Gotteshäuser, Restaurants und Geschäfte, und es stellte sich eine merkwürdige Realität ein: zusammen und doch getrennt durch Masken und Abstandsgebote einerseits, Verschwörungstheroretiker und Epidemieleugner andererseits.
Inzwischen steigen die Infektionszahlen massiv, und es geht die Angst um, die gewonnenen Freiheiten könnten wieder verwischen wie Sandbilder im Wind.
Und da macht der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, einen Vorschlag: Diese Gesellschaft sollte mit einem interreligiösen Feiertag an die Corona-Krise erinnern: »an die tiefgehende Erfahrung einer großen Unterbrechung«.
Bätzing fragt: »Wäre ein solcher Tag des Wir-Gefühls und der Besinnung für Gläubige und Ungläubige nicht ein wunderbares, heilendes Zeichen?« Denn die Krise »brachte in einer Republik, in welcher der Zusammenhalt zum knappen Gut zu werden drohte, jenes ebenso lange nicht mehr gekannte Wir-Gefühl hervor«, so der Limburger Bischof.
Wende Bätzing macht sich Gedanken darüber, wie die Deutschen in 30 oder 100 Jahren auf die heutige Gegenwart zurückblicken werden und ob die Pandemie neben aller Angst und Trauer eine zeitgeschichtliche Wende für Politik, Gesellschaft und Kirche markiert. Fest steht für ihn, dass sich die Corona-Zeit ins kollektive Gedächtnis eingraben wird wie die Mondlandung, der 11. September 2001 oder der Fall der Berliner Mauer.
In der Bundesrepublik gibt es neun Feiertage, die in allen Bundesländern einheitlich geregelt sind. Sieben davon sind christlich: Neujahrstag, Karfreitag, Ostermontag, Christi Himmelfahrt, Pfingstmontag sowie der 1. und 2. Weihnachtsfeiertag. In einigen Bundesländern gibt es zusätzliche Feiertage wie den Reforma-tionstag, Allerheiligen oder den Interna-tionalen Frauentag.
Darüber hinaus einen gesetzlichen interreligiösen Feiertag einzuführen, der daran erinnert, wie zerbrechlich unsere Zivilisation ist – wie sehr Ereignisse an einem Ende der Welt sich innerhalb weniger Wochen zu einer weltweiten Pandemie ausbreiten, der aber auch aufzeigt, wie sich diese Gesellschaft damit auseinandergesetzt hat, wäre ein Zeichen.
Klar, es gäbe auch Argumente, den 27. Januar, den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, zu einem bundesweiten gesetzlichen Feiertag zu machen. Aber will man wirklich, dass eine Gesellschaft an einem solchen Tag feiert, es sich, wie an anderen Feiertagen, gut gehen lässt? Ich kann und will mir das nicht vorstellen.
Helden Bei der Corona-Epidemie gäbe es beides: das Gedenken an die Toten und die, die lebenslang mit den Folgen umzugehen haben, wie auch an diejenigen, die die Helden dieser Tage waren, weil sie selbstlos und unter großer persönlicher Gefahr gepflegt und geholfen haben. Und es gäbe die Genesenen wie auch eine gesamtgesellschaftliche Bewusstseinsveränderung.
Synagogen, Kirchen, Moscheen und andere Sakralgebäude könnten etwas daraus machen: Sie könnten ihre Tore öffnen und verdeutlichen, dass es neben den staatlichen Verfassungsgarantien des Grundgesetzes auch Welten der Gewissheit gibt, die unter allen Bedingungen funktionieren, weil gläubige Menschen sie im Herzen haben. Ob das zu gemeinsamen interreligiösen Gedenkfeiern führt, wie sie etwa der 11. September seit 2001 in den USA hervorgebracht hat, bliebe zu diskutieren.
Andreas Nachama ist Rabbiner, Vorsitzender des Präsidiums im House of One Berlin und seit 2019 jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Contra – Daniel Neumann findet: Wir müssen wissen, was uns verbindet und was uns trennt.
Ein interreligiöser Feiertag? Also ein gemeinsamer Feiertag für Juden, Christen und Muslime? Neu ist die Idee nicht. Neu ist allerdings der Bezug. Nämlich einen Feiertag anlässlich der Corona-Pandemie zu kreieren und diesen dann religiös als Tag der Besinnung und des Wir-Gefühls aufzuladen. »Shabbat Reloaded« sozusagen.
Nun klingt ein solcher Vorschlag im ersten Moment durchaus charmant. Und er erinnert an die interreligiösen Versuche, dem Verbindenden der monotheistischen Religionen nicht nur im Dialog oder Trialog nachzuspüren, sondern auch sichtbare Zeichen zu setzen, um die Verbundenheit zu betonen und das gegenseitige Verständnis zu fördern. So weit, so gut.
Signal Aber wäre da ein interreligiöser Feiertag als bundesweites Signal nicht folgerichtig? Wäre das nicht ein gutes Signal? Es wäre zumindest gut gemeint. Aber wie heißt es doch: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Ein Zitat übrigens, das mal Gottfried Benn und mal Kurt Tucholsky zugeschrieben wird. Der eine Protestant, der andere Jude. Womit wir es also mit einem wahrhaft interreligiösen Zitat zu tun haben! Aber sei’s drum.
Einen interreligiösen Feiertag hielte ich jedenfalls für falsch. Trotz der guten Absicht. Und zwar aus mindestens drei Gründen: Erstens gibt es schon genug religiöse Feiertage, wenn auch keinen einzigen interreligiösen. Wie viele es genau sind, lässt sich wegen unserer föderalen Struktur zwar nicht mit letzter Sicherheit sagen, aber es sind deutlich mehr Feiertage, die religiöse Bezüge haben, als säkulare.
Idealfall Mit Blick auf die Geschichte und religiöse Prägung dieses Landes mag das verständlich sein. Für künftige Feiertagsschöpfungen sollte allerdings auch die vorherrschende Lebenswirklichkeit der Menschen eine wichtige Rolle spielen. Schließlich sollten im Idealfall so viele Bürger wie möglich etwas mit Feiertagen anfangen können und nicht nur bestimmte, zahlenmäßig schrumpfende Gemeinschaften.
»Im Idealfall sollten so viele Menschen wie möglich etwas mit Feiertagen
Daniel Neumann
anfangen können.«
Zweitens stehen wir Juden auf dem Boden einer Tradition, die viele Jahrtausende umspannt. Und obwohl unsere Religion, unser Gesetz und unser Volk in die Tiefen der Zeit zurückreichen, umarmen wir die Gegenwart, das Hier und Jetzt, das Leben, was auch immer es für uns bereithalten mag. Wir arbeiten unermüdlich daran, Vergangenheit und Gegenwart nicht zu unvereinbaren Gegensätzen werden zu lassen und unsere Traditionen nicht leichtfertig über Bord zu werfen.
Das bedeutet aber auch, dass wir nicht mir nichts, dir nichts entscheiden können, einen neuen Feiertag einzurichten. Noch dazu einen interreligiösen. Nein! Denn die meisten unserer Feiertage sind biblischen Ursprungs. Sie haben ihre Grundlage in der Tora und sind klar definiert. Zwar gibt es auch nachbiblische Feiertage, aber selbst diese haben klare Bezüge zu unserer jüdischen Geschichte, beschreiben, wo wir herkommen, wer wir sind oder was wir durchgestanden haben. Sie sind Teil unserer jüdischen Chronik – und sollten dies auch bleiben.
Symbolik Ein gesetzlicher Feiertag mit interreligiöser Symbolik würde all dies außer Acht lassen und würde damit nicht mehr auf dem Fundament stehen, das uns Juden zu allen Zeiten getragen hat. Es wäre eine Neuerung um der Neuerung willen, ohne klaren Bezug zur jüdischen Religion, Tradition oder Geschichte. Auch deswegen ist es keine gute Idee.
Drittens würde ein solcher interreligiöser Feiertag die Gemeinsamkeiten überbetonen, während die Unterschiede auf der Strecke blieben. Genau das ist es aber, worauf es in einer pluralen, liberalen und offenen Gesellschaft ankommt.
Es geht nicht darum, dass drei Religionen etwas vermeintlich Gemeinsames oder Verbindendes schaffen – oder es durch den Staat schaffen lassen –, um sich selbst und dem Rest der Gesellschaft zu beweisen, wie gut sie miteinander auskommen, wie sehr die Ziele einander gleichen und wie befruchtend die religiösen Impulse für alle sein können. Es muss vielmehr darum gehen, dasjenige wertzuschätzen, was uns unterscheidet, und auszuhalten, dass der andere eben genau das ist: anders! Anders aussieht, anders denkt, anders lebt! Und ihn doch als gleichwertigen Teil der Gesellschaft zu betrachten, als Mensch zu achten, ganz unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religion.
Keine Frage: Verbindendes zu betonen, ist wichtig und gut. Und die monotheistischen Religionen verbindet einiges – nicht zuletzt ein einziger G’tt, auch wenn das noch nicht bei allen angekommen ist …
Identität Noch wichtiger ist es allerdings, trotz eigener Lebensentwürfe, trotz eigener Tradition, trotz eigener Identität dennoch akzeptiert, ausgehalten und im besten Fall respektiert zu werden.
Und genau deshalb braucht es keinen interreligiösen Feiertag. Stattdessen braucht es ein gesundes Selbstbewusstsein der Religionen, das Wissen um die eigenen Traditionen sowie die Kenntnis dessen, was uns verbindet und was uns trennt. Ja, was uns anders macht!
Denn wie sagte schon Winnie Puuh: »Das, was uns anders macht, ist das, was uns ausmacht!«
Daniel Neumann ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen