Keine Sekunde musste Judith Neuwald-Tasbach nachdenken, ob sie beim Gemeindebarometer mitmachen soll. »Natürlich bin ich ziemlich rasch den Fragenkatalog durchgegangen«, sagt die ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.
Nun liegen die mehr als 70 Seiten der Auswertung vor, die sie sich bereits angeschaut hat. »Ich wollte einen Überblick bekommen, wie sich Jüdinnen und Juden in Deutschland fühlen, wie es um ihr Engagement für die Gemeinschaft aussieht und ob sie sich zugehörig fühlen.«
Ihre Erkenntnisse: »Es macht mich furchtbar traurig, dass sich jemand außerhalb der Gemeinde als einsam beschreibt und dass sich viele Juden nicht mehr sicher in Deutschland fühlen.« Positiv sei ihr aufgefallen, dass mehr als 90 Prozent der Befragten bestätigten, wie wichtig ihnen ihr Judentum sei.
Weiter freut sie sich, dass Kultur und Tradition als zentrale Säulen bewertet werden. »Das Bedürfnis nach mehr jüdischer Infrastruktur kann ich sehr gut nachvollziehen.«
Mehr als 2500 Personen nahmen sich in den vergangenen Monaten die Zeit, um anonym den Fragenkatalog auszufüllen. Nach der ersten Erhebung des Gemeindebarometers im Jahr 2019 wollte der Zentralrat der Juden erneut erfahren, wie es den Gemeindemitgliedern geht, welche Sorgen sie haben und was sie sich wünschen.
Jüdinnen und Juden ab 16 Jahren konnten an der Befragung teilnehmen – unabhängig davon, ob sie einer Gemeinde angehören oder als Einzelpersonen ihre Meinung äußerten. Auch »Vaterjuden«, also Menschen mit jüdischem Vater und nicht-jüdischer Mutter waren eingeladen.
»Alle Stimmen waren uns wichtig«, betont Anja Olejnik, Abteilungsleiterin Gemeinde- und Organisationsentwicklung beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Der Zentralrat begreife sich als lernende Organisation und nehme genannte Kritikpunkte für die Zukunft ernst, möchte sich verbessern und weiterentwickeln.
Besonders die Frage, was sich seit dem 7. Oktober 2023 verändert hat, stand im Fokus der Umfrage
Besonders die Frage, was sich seit dem 7. Oktober 2023 verändert hat, stand im Fokus der Umfrage. Ein besorgter Elternteil schildert: »Meine Tochter hat ihr Studium an der Uni abgebrochen, weil sie Angst hat, dass jemand im öffentlichen Leben erkennen könnte, dass sie jüdisch ist. Sie bat mich sogar, unsere Mesusa an der Wohnungstür abzunehmen, weil niemand sehen soll, dass wir jüdisch sind. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Außerdem bin ich ratlos, wie ich meine Tochter unterstützen und motivieren kann, ihre Zukunft zu planen und wieder aktiv ins öffentliche Leben zurückzukehren.«
Eine andere Teilnehmerin schreibt: »Vor dem 7. Oktober war ich Deutsche, Weltbürgerin und Jüdin. Jetzt identifiziere ich mich nur noch als Jüdin.« Eine weitere Stimme lautet: »Der Antisemitismus hier ist unerträglich. Außerhalb der Gemeinde fühle ich mich einsam und nicht verstanden.«
Diese Aussagen spiegeln die Ergebnisse der Umfrage wider. »Das Gemeindebarometer beleuchtet die Perspektiven, Wünsche und Erwartungen aller Generationen und Zielgruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es dient als Grundlage für eine gezielte Weiterentwicklung der Gemeindearbeit«, erklärt Olejnik. Die Ergebnisse zeigen auf, welche Bereiche erfolgreich sind, welche Zielgruppen erreicht werden und wo Verbesserungsbedarf besteht.
Zu den gewünschten Angeboten zählen unter anderem mehr koschere Restaurants und Lebensmittelgeschäfte
Das allgemeine Sicherheitsempfinden der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland habe sich beispielsweise seit 2019 verschlechtert, so Olejnik. Neben der Sicherheit waren jedoch auch andere Themen Teil der Befragung: Angebote und Programme, die Teilnahme an Gemeindewahlen und Entscheidungsprozessen, Engagement und Funktionen innerhalb der Gemeinde, die Bindung an die Gemeinschaft, Israel, politische Haltungen und Interessenvertretung.
Zu den gewünschten Angeboten zählen unter anderem mehr koschere Restaurants und Lebensmittelgeschäfte sowie die Freiheit, ohne Angst mit Kippa oder Davidstern durch die Stadt zu gehen. Viele betonten auch den Bedarf an offenen Räumen und »informellen, angenehmen« Treffen.
Einer wünscht sich beispielsweise ein Zentrum für junge Erwachsene ab
18 Jahren, ein anderer eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und jüdischem Leben. Weitere Anliegen waren der Ausbau jüdischer Schulen und Kindergärten sowie kreative Kinderprogramme, Machanot, Barmizwa- und Batmizwa-Unterricht, Bildungsangebote wie Sonntagsschulen und allgemeine Wissensvermittlung zur jüdischen Religion und zu Traditionen.
Feiertage und Feste gelten laut Bericht als die beliebtesten Veranstaltungen, gefolgt von Gottesdiensten und kulturellen Terminen. Auch wollte der Zentralrat wissen, aus welchen Gründen Mitglieder sich nicht an Gemeindewahlen beteiligen. Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Wahlen, Unzufriedenheit mit den Kandidaten sowie die fehlende Transparenz politischer Vorgänge und eine geringe Bindung an die Gemeinde wurden als Hauptgründe für die niedrige Wahlbeteiligung genannt. »Seit der letzten Umfrage 2019 ist jedoch ein leicht positiver Trend bei der Wahlbeteiligung zu verzeichnen«, erklärt Olejnik.
Am stärksten engagieren sich Mitglieder in der Sozialarbeit.
Was die Beteiligung an Entscheidungsprozessen betrifft, fühlen sich ältere Mitglieder eher gehört und schätzen ihren Einfluss höher ein als jüngere Mitglieder.
Letztgenannte und solche ohne Funktionen in den Gemeinden fühlen sich hingegen weiter von Entscheidungsprozessen entfernt und bewerten ihre Mitwirkungsmöglichkeiten als gering. Das Engagement innerhalb der Gemeinde sei unterschiedlich verteilt: Am stärksten engagieren sich Mitglieder in der Sozialarbeit, gefolgt von Vorstands- oder Gemeinderatsarbeit, Kultur- und Bildungsprogrammen sowie religiösen Diensten. Die geringste Beteiligung gibt es in den Bereichen Sport und Technik.
Als Hauptgründe für eine Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde nannten die Befragten ihren Glauben und das Gefühl, Teil einer Solidargemeinschaft zu sein. Gründe für einen Austritt aus der Gemeinde sind meist Probleme mit der Gemeindeführung, ein Umzug oder ein mangelndes Angebot für bestimmte Zielgruppen.
Ein Wiedereintritt in die Gemeinde erscheint vielen ehemaligen Mitgliedern oder Nichtmitgliedern unter bestimmten Bedingungen möglich – insbesondere bei mehr Pluralismus und einer größeren Vielfalt an Angeboten. »Dies zeigt, dass Offenheit für Vielfalt und attraktive Programme entscheidende Faktoren sind, um die Attraktivität der Gemeinden zu steigern und die Mitgliederbindung zu stärken«, heißt es weiter im Bericht.
Die Ergenisse haben deutlich gemacht, wie wichtig der Dialog mit den Mitgliedern sei
Die Ergebnisse des ersten Gemeindebarometers aus dem Jahr 2019 hätten deutlich gemacht, wie wichtig der Dialog mit den Mitgliedern sei, betont Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. »Seitdem wurden neue Programme ins Leben gerufen, um das Angebot der Gemeinden zu verbessern und den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu stärken.«
Gerade in schwierigen Zeiten sei es Aufgabe und Pflicht des Zentralrats, die Sicherheit und das Wohlbefinden aller Jüdinnen und Juden zu fördern. »Es geht darum, nicht nur auf bessere Zeiten zu hoffen, sondern diese aktiv zu gestalten.«