Ein Thema stand nicht auf der Tagesordnung, bestimmte aber die diesjährige Ratsversammlung des Zentralrats der Juden: die Corona-Pandemie. Während im vergangenen Jahr die Tagung des obersten Entscheidungsgremiums des Zentralrats digital abgehalten wurde, fand die Sitzung am vergangenen Sonntag in Präsenz im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main statt.
Bereits beim abendlichen Dinner am Samstagabend bekannte Zentralratspräsident Josef Schuster, dass die Entwicklung der Inzidenzwerte den Verantwortlichen mit Blick auf die Ratsversammlung einiges Kopfzerbrechen bereitet habe, aus Berlin und München auch angeregt wurde, die Versammlung wieder in digitaler Form stattfinden zu lassen.
Akademie, Zentralarchiv, Festjahr, Militärrabbiner – es gab 2021 viele Gründe, nach vorne zu blicken.
Doch nachdem die Satzung vorschreibt, dass der Haushalt bis Ende November zu verabschieden sei, eine Terminverlegung und entsprechende Vorbereitung der virtuellen Tagung zeitlich nicht mehr zu realisieren war, habe man sich für diese Präsenzsitzung entschieden, jedoch unter strikter Einhaltung der 2G-plus-Regelung.
Dementsprechend hatten nur geimpfte oder genesene Teilnehmer Zutritt, die sich auch am Abend zuvor und am Morgen vor der Sitzung einem Corona-Test unterzogen hatten. »Ich bin mir sicher, dass wir einen sehr hohen Sicherheitsfaktor haben«, meinte Zentralratspräsident Josef Schuster.
So kamen am Sonntagvormittag nur rund 50 Delegierte aus den Landesverbänden und Großgemeinden mit Vertretern des Direktoriums und Präsidiums zusammen: eine Ratsversammlung ohne Gäste und in kleinerer Form.
OPTIMISMUS Die Teilnehmer in Frankfurt begrüßen zu können, sei etwas Besonderes geworden, so Schuster. Mit Blick auf die Pandemie gebe es weiterhin viele Ungewissheiten und Fragezeichen. Dennoch habe man auch Grund, in optimistischer Stimmung nach vorne zu blicken: »Denn in den zurückliegenden zwölf Monaten hat die jüdische Gemeinschaft eine Menge geleistet, und unser Zusammenhalt ist gestärkt.«
In seiner gut einstündigen Rede gab Zentralratspräsident Schuster einen Überblick über besondere Veranstaltungen, Themen und Debatten des vergangenen Jahres und hob dabei das Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« als herausragendes Ereignis hervor.
Zudem habe man mit dem Spatenstich für die Jüdische Akademie in Frankfurt und der Eröffnung neuer Räume für das Zentralarchiv in Heidelberg Signale gesetzt, die eindeutig in die Zukunft weisen. Besondere Erwähnung fand die Amtseinführung des Militärbundesrabbiners Zsolt Balla und die Einrichtung des Militärrabbinats.
RENTEN Zentralratspräsident Josef Schuster verwies in seiner Rede auch auf die andauernden Bemühungen, eine Verhandlungslösung für das Problem der Altersarmut jüdischer Zuwanderer zu finden. Hier ging es zunächst um eine Regelung im sogenannten Fremdrentengesetz, nun eher um eine Fondslösung.
Auf jeden Fall müsse eine schnelle Klärung für die Betroffenen gefunden werden, deren Lebensleistung anzuerkennen sei, so Schuster.
Auch zur Diskussion um die sogenannten Vaterjuden bezog Schuster in seiner Ansprache Stellung: »Wer halachisch Jude ist oder nicht, ist kein Thema des Zentralrats der Juden in Deutschland, sondern ausschließlich der Rabbinerorganisationen.« Dies werde in der nichtjüdischen Öffentlichkeit nicht immer so verstanden. Das Thema sei nicht neu. Und er habe unverändert den Wunsch an die Rabbiner, sich Gedanken zu machen, wie Menschen, die jüdisch sozialisiert sind, der Übertritt zum Judentum erleichtert werden kann. Unter Beachtung der Halacha könne hier doch einiges getan werden, betonte Schuster und erhielt dafür Applaus der Delegierten.
In der anschließenden Aussprache meldete sich die liberale Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck zu Wort. Sie machte deutlich, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter habe oder zum Judentum übertritt. Gleichwohl nehme die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) Rücksicht auf Vaterjuden: »Sie werden unterstützt, niemand wird abgewiesen.« Ein Giur für patrilineare Juden habe keine richtigen Hürden. »Die Leute müssen nur kommen und es machen.«
GRUSSWORTE Rabbinerin Klapheck hatte bereits zu Beginn der Tagung ein Grußwort des Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, Andreas Nachama, verlesen, der nicht an der Ratsversammlung teilnehmen konnte.
Nachama bezog sich darin unter anderem auf den Spatenstich für die Jüdische Akademie, die neuen Räume des Zentralarchivs und die Amtseinführung des Militärbundesrabbiners: Dies seien große Fortschritte, gerade zwei Monate vor dem 80. Jahrestag des 20. Januar 1942, als in einer Villa am Berliner Wannsee der Mord an den europäischen Juden koordiniert und geplant worden war. »Vor diesem Hintergrund ist alles, was wir hier gemeinsam erleben, ein Wunder«, so Nachama weiter. Dank gelte dem Zentralrat und allen, die Verantwortung übernehmen. »Aber Dank auch an alle, die in den Gemeinden und Synagogen daran Anteil haben.«
Für die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) sprach der Leipziger Rabbiner Zsolt Balla das Grußwort. Auch er dankte allen für ihre Arbeit in den Gemeinden und dem Zentralrat für seine verschiedenen Initiativen. Balla betonte, dass die vergangene, durch die Corona-Pandemie geprägte Zeit sehr schwer war für die jüdischen Gemeinden. Sie sei gekennzeichnet durch große Herausforderungen, zum Beispiel die, dass viele Gemeindemitglieder in der Pandemie nicht mehr in die Synagogen kämen.
Aber er sehe auch die Chancen dieser Situation. »Wir können es gemeinsam schaffen, alle Gemeindemitglieder, auch die schwächsten, zu berücksichtigen.« Dafür werde Glaube und Gemeinsinn gebraucht. »Schließlich sind wir eine Gemeinschaft«, betonte Rabbiner Balla.
Zentralratspräsident Josef Schuster forderte in seiner Rede Klärung beim Problem der Altersarmut.
Im weiteren Verlauf der Ratsversammlung stand noch der Bericht des Prüfungsausschusses über den Haushalt 2020 und die Beschlussfassung des Etats 2022 auf der Tagesordnung. Der Haushaltsplan wurde einstimmig angenommen. Auch folgten die Delegierten der Empfehlung von Jacques Abramowicz, der für den Prüfungsausschuss die Entlastung von Präsidium, Direktorium und Geschäftsführung empfahl.
Auch eine Satzungsfrage stand zur Diskussion, die den Fall berücksichtigt, dass sich neue jüdische Gruppierungen neben existierenden Gemeinden bilden und auf Anerkennung als jüdische Gemeinschaft dringen.
PASSUS »Die staatlichen Behörden tun sich schwer, damit umzugehen«, erläuterte Josef Schuster. Insofern brauche es einen Passus in der Satzung, dass der Zentralrat als neutrale Institution nach bestimmten – in Abstimmung mit den Rabbinerkonferenzen erarbeiteten – Kriterien entscheiden könne, ob eine Gemeinschaft eine jüdische Gemeinde ist oder nicht. Dies solle ohne Beteiligung von Präsidiumsmitgliedern aus dem jeweils betroffenen Landesverband erfolgen, da diese eventuell befangen seien könnten. Die Satzung solle nicht vorsehen, dass ein Landesverband den Zentralrat anrufen müsse, führte Schuster aus.
Der Delegierte André Freud aus Nürnberg unterstützte den Antrag, da eine Landesbehörde im Zweifelsfall nicht entscheiden könne, ob es sich bei Antragstellern um eine jüdische Gruppierung handelt. »Die Landesregierung muss sich heraushalten. Aber es muss doch jemand festlegen.«
Direktoriumsmitglied Michael Grünberg aus Osnabrück zeigte sich eher skeptisch, »weil es den Landesverbänden ganz, ganz viel aus der Hand nimmt«. Am Ende sei dort die Entscheidung im Landesverband zu treffen, für Zweifelsfälle gebe es das Schiedsgericht des Zentralrats.
GEMEINDELEBEN Tagungsleiter Daniel Neumann erklärte hingegen seine Unterstützung für den Vorschlag und sagte, den Landesverbänden werde nicht die Möglichkeit genommen, eine Gruppierung als jüdisch anzuerkennen. Doch im Streitfall müsse es eine neutrale, nichtstaatliche Stelle geben, die festlegt, ob es sich um eine jüdische Gemeinde handele. »Insofern ist es eine Erweiterung der Möglichkeiten.«
Auch während der Pandemie war der Zusammenhalt in den Gemeinden zu spüren.
Nach der Diskussion wurde der Antrag in leicht abgeänderter Form angenommen. Zentralratspräsident Schuster sprach von einer »kleinen, aber wichtigen Satzungsänderung«.
Die Corona-Pandemie hat nicht nur die diesjährige Ratsversammlung bestimmt. Sie hat seit fast zwei Jahren auch erheblichen Einfluss auf das Gemeindeleben. Am Samstagabend betonte Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann den Stellenwert der jüdischen Gemeinden in der Pandemie: »Wir waren für unsere Mitglieder da, der Zusammenhalt war zu spüren.« Man habe sich auf die Gemeinden verlassen können. Sie seien, so Botmann, »das Rückgrat der jüdischen Gemeinschaft«.
PANDEMIE-WELLE Dass die neuerliche Verschärfung der Corona-Situation an den Gemeinden nicht spurlos vorübergeht, drückte die Stuttgarter Delegierte Susanne Jakubowski im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen aus: »Man würde so gern endlich wieder unter Menschen gehen, Feste feiern, Kidduschim, ein bisschen näher im Gottesdienst zusammensitzen.«
Auch wenn die derzeitige vierte Pandemie-Welle für Verunsicherung sorgt, lässt sich Jakubowski nicht entmutigen: »Chanukka steht vor der Tür. Das Licht wird uns Hoffnung geben.«