Für viele war es eine Sensation: Gegen die Konkurrenz aus Nürnberg, Hildesheim, Hannover und Magdeburg setzte sich Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt 2025 durch.
Mit ausschlaggebend für den Erfolg des Außenseiters war, dass die Stadt in ihrem Konzept Elemente präsentierte, die auch für andere europäische Städte interessant sein dürften, wie beispielsweise die Umwandlung alter Industrieareale in kreative Zentren, sagte Projektleiter Ferenc Csák.
Bewerbung Ruth Röcher, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, findet diese Entscheidung aber eigentlich nicht wirklich sensationell. Sie habe, sagt Röcher, der die Freude über den Titelgewinn noch immer deutlich anzumerken ist, »nie daran gezweifelt, dass wir das schaffen. Ich habe den ganzen Bewerbungsprozess intensiv verfolgt und wusste, dass die Chemnitzer das alles sehr ernst genommen haben und ganz kluge Leute an dem Projekt arbeiteten«.
Bislang steht Chemnitz immer im Schatten von Dresden und Leipzig, sagt Ruth Röcher.
Die Entscheidung fiel, als Ruth Röcher gerade in einer Sitzung mit anderen Leitern von Kulturhäusern der Stadt saß. »Wir haben die Live-Übertragung der Entscheidung dann zusammen am Computer verfolgt – und genau da kamen bei mir zum ersten Mal Zweifel auf. Als die einleitenden Worte vor der Ergebnisverkündung gesprochen wurden, war ich fast sicher, dass sie an Chemnitz gerichtet waren und uns trösten sollten – aber dann, als der Zettel mit der Aufschrift ›Chemnitz‹ aus der Urne gezogen wurde, das war ein ganz wunderbarer Moment.«
Information Die Chemnitzer Gemeinde hatte ihre Mitglieder sehr ausführlich über die Bewerbung der Stadt informiert. »In unserer Gemeindezeitung, die jeden Monat auf Deutsch und auf Russisch erscheint, haben wir genau erklärt, was es mit dem Titel ›Kulturhauptstadt Europas‹ auf sich hat und warum das eine große Sache ist«, berichtet Ruth Röcher.
Gerade die älteren Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die »deutsche Medien nicht so intensiv verfolgen«, sollten gut informiert sein, fand sie. »Ursprünglich – also vor Corona – war geplant, dass die Kulturhauptstadt-Jury nach Chemnitz kommt und dann natürlich auch mit Passanten spricht. Falls sie jemanden von unseren Leuten ansprechen, sollten diese natürlich gut Bescheid wissen.«
Das große Glück mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zu teilen, dazu ist die Vorsitzende allerdings noch gar nicht gekommen. »Es wissen natürlich schon alle, aber genauer werden wir dann in der Zeitung berichten.« Angesichts der verschärften Corona-Regeln werde die Gemeinde alle geplanten Veranstaltungen für diesen Monat absagen, »und dann werden wir weitersehen«.
Wie sich die jüdische Gemeinde als Bestandteil der Kulturhauptstadt Europas präsentieren wird, steht ohnehin noch nicht fest. »Wir müssen uns nun zuerst das ›Bid Book‹ anschauen, das gibt es bisher nur auf Englisch und wird gerade ins Deutsche übersetzt.« Die Bewerbungsmappe oder das sogenannte Bid Book ist ein zentraler Bestandteil der Bewerbungsunterlagen zur Kulturhauptstadt Europas.
Besucher Das Thema werde die Gemeinde aber in den nächsten Monaten sehr beschäftigen, das stehe fest. »Wir haben viel vorzubereiten und zu machen.« Unter anderem werden ja viele internationale Besucher erwartet, für die Juden unter ihnen werde die Gemeinde sicher Angebote wie gemeinsame Schabbatfeiern machen, sagt Röcher. »Klar ist, es wird viele interessante Begegnungen geben, auf die wir uns jetzt schon freuen.«
Sie freue sich auch deswegen über den Titel, »weil es der Stadt guttun wird, endlich einmal aller Welt zu zeigen, dass sie eben nicht nur die Nazistadt ist, als die sie im August 2018 Schlagzeilen machte«, sagt die Gemeindevorsitzende. Natürlich gebe es Nazis in Chemnitz, »aber die gibt es in jeder deutschen Stadt, und ganz ehrlich, wenn sie hier so dominant wären, würden wir Juden schon lange nicht mehr hier leben«.
Nun habe man die Chance, zu zeigen, dass Chemnitz über eine blühende Kultur verfügt. »Wir stehen immer ein bisschen im Schatten von Dresden und Leipzig, ein bisschen wie die kleine Schwester, die nicht ganz so wohlgeraten ist – aus diesem Schatten werden wir nun heraustreten.«
Den Besuchern aus dem In- und Ausland werde man auch die Geschichte der jüdischen Gemeinde vermitteln. »In diesem Monat feiern wir unser 135-jähriges Bestehen, im Moment arbeiten wir an einer Ausstellung darüber.« Vor der Nazizeit »blühte die Gemeinde, die Stadt Chemnitz war eine der reichsten Deutschlands, es gab viele Fabriken, vor allem im Textilbereich, und einige davon gehörten Juden«.
Mäzenatentum 28 Vereine existierten damals unter dem Dach der Gemeinde, erzählt Ruth Röcher. »Viele Angebote waren nicht nur an die jüdischen Chemnitzer gerichtet, sondern an alle Einwohner der Stadt.« Viele Mäzene habe es damals gegeben, »das entsprach wohl dem Geist der Zeit, dass man am eigenen Wohlstand auch andere teilhaben lassen wollte«. Ein Gemeindemitglied habe beispielsweise ein Erholungsheim für Jugendliche aus der Region bezahlt, »nicht nur für die jüdischen, sondern für alle«.
In diese Fußstapfen will man »gern treten«, sagt Röcher. »Natürlich sind sie groß, und der Reichtum fehlt uns, aber das wiegen wir mit Warmherzigkeit und Ideen auf«, ist die Gemeindevorsitzende überzeugt.
Auch die 18 Chemnitzer Juden, die im September 1945 die Gemeinde wiedergründeten, seien Vorbilder. »Dass die Familien vereinbarten, sich nach dem Krieg wieder zu Hause, also in der Stadt, zu treffen, zeigt, wie verwurzelt sie waren. Nur 45 Menschen sind zurückgekommen, und am 7. September, zu Rosch Haschana, trafen sich einige und entschieden, weiterzumachen.« Das beseele sie, sagt Röcher. »Da kamen junge Leute wieder, jeder mit seinem Schicksal und den furchtbaren Erinnerungen an das, was sie erlebt hatten, und entschieden: ›Wir fangen neu an.‹«