Gewissenhafte Menschen tragen ihre Termine schon Monate im Voraus in den Kalender ein. Bei Geburtstagen schreibt man auch mal ein Jahr vorher den Namen zum Datum. Benjamin Barth allerdings könnte bis zum Januar 2020 auf jeder Seite des Kalenders einen Eintrag machen: Der Düsseldorfer nimmt am Projekt »Daf Jomi« (»tägliche Seite«) teil. Jeden Tag lernt er eines der 2.711 Blätter des Talmuds.
Im August startete der »Daf Jomi«-Zyklus in eine neue Runde. Das Programm wurde schon 1923 von Rabbiner Meir Schapiro vorgestellt und bringt seitdem weltweit Menschen zum gemeinsamen Lernen. »Ich habe es kennengelernt, als ich nach dem Abitur ein Jahr an einer Jeschiwa in Israel verbracht habe«, erzählt der 25-Jährige. »Da haben ein paar Leute am Programm teilgenommen, und es gab auch Schiurim dazu.« Doch mit dem täglichen Stoff an der Talmudschule hatte Barth zu der Zeit genug zu tun. »Aber das wurde damals zu einem kleinen Traum. Ich wollte einmal den Talmud beenden und dadurch im Lernen aufsteigen.«
Traktat Die Intention von Rabbiner Schapiro war, durch das Programm sonst wenig gelesene Traktate des Talmuds bekannt zu machen. »Häufig gelernt hat man zum Beispiel die Texte zu den Feiertagen. Aber die Traktate über Tempeldienste oder Opfer waren den Menschen zu abstrakt«, erzählt Barth.
Er hat im Moment noch Glück, denn »der Anfang des Talmuds ist recht lebhaft«. Noch stehen in den mittleren Spalten der Seiten Geschichten, darum gruppieren sich die eher kurzen Kommentare. Benjamin Barth blättert in seinem Band weiter, findet eine Seite aus dem halachischen Teil und zeigt, dass hier die mittlere Spalte schrumpft und die Diskussionen in den Kommentaren deutlich länger werden. Er zeigt die Verweise auf andere, scheinbar widersprüchliche Traktate, die Fußnoten – »da sind so viele Sachen drin, eine Menge Informationen auf einem Blatt«.
Rund eine Stunde benötigt er für gewöhnlich, wenn er sich abends mit dem Talmud an den Schreibtisch setzt. Diese Länge haben auch die Schiurim, die er sich aus dem Internet lädt. »Das sind meistens Audiodateien, ich benutze am liebsten die von der Yeshiva University in New York«, erzählt Barth. »Dafür gibt es natürlich auch eine App«, sagt er lachend, nimmt sein Telefon in die Hand, tippt dreimal darauf, und schon wird der Schiur eines Rabbiners geladen. Mit dem Vortrag im Ohr und dem Talmud auf dem Buchständer vor sich lernt er jeden Abend. Im Moment sogar zwei Blätter, wenn es klappt. »Ich bin noch nicht im Plan. Aber das war schon am Anfang klar, weil ich noch Klausuren zu schreiben hatte«, erklärt der Medizinstudent.
Ritual Das »Daf Jomi«-Programm wurde auch mit Blick auf berufstätige Menschen entwickelt, deshalb ist Barth zuversichtlich, den Zyklus durchhalten zu können. Dass er aber nicht jeden Abend in den nächsten sieben Jahren am Schreibtisch sitzen wird, weiß er ebenfalls. Trotzdem soll das Lesen im Talmud zu einem Ritual werden. »Wenn es sein muss, werde ich das auch an anderen Orten machen.«
Fernseher In der Düsseldorfer Gemeinde sieht man ihn deshalb in den letzten Wochen auch hin und wieder mit einem Talmud unterm Arm. »Das Traktat zum Schabbat habe ich in der Straßenbahn zur Uni gelernt«, sagt er grinsend, »das geht auch.« Sich zum Beispiel mit dem Talmud vor den Fernseher setzen und nebenbei beim Fußballgucken lernen, das möchte er jedoch nicht. »Man sollte sich für dieses Programm schon Zeit nehmen.«
Schließlich liegen auch noch »sehr, sehr, sehr schwere Abschnitte« vor ihm, wie Barth weiß. Er beginnt stets mit dem Original, liest sieben oder acht Zeilen, verdeutlicht sich die Argumentationsstufen, schaut dann vielleicht noch in die englischen Erklärungen auf der gegenüberliegenden Seite. Und wenn er die Zeit findet, wiederholt er schon gelesene Traktate. »Die Gefahr besteht, dass man das Programm siebeneinhalb Jahre verfolgt, vielleicht auch 15 Jahre, aber am Ende dann doch nur sagen kann: Ich habe mir einmal alles angeschaut, es ist schön«, sagt Barth. »Das Ziel ist ja auch, ein besserer Talmudist zu werden. Und dafür muss man die Sachen immer wiederholen. Daran wächst man.«
Dieses Wachsen besteht auf der einen Seite daraus, die Texte schneller und besser zu verstehen. »Das merkt man, wenn man selbst auf Fragen kommt, selbst die Schwierigkeiten bemerkt, die im Vergleich mit anderen Texten entstehen«, sagt der Student. Doch eben nicht nur intellektuell möchte er sich weiterentwickeln. »Der Talmud hat auch andere Auswirkungen auf den Menschen. Man merkt, dass es nicht um verschrobene Gelehrte geht, die in ihren Elfenbeintürmen diskutiert haben«, erklärt Barth. »Sie kannten sich gut mit den Stärken und Schwächen der Menschen aus, standen selbst mit beiden Beinen im Leben. Der Talmud ist eben nicht prüde und fern der Realität.«