Herr Schuster, 75 Jahre sind ein ganzes Menschenalter. Ist der 27. Januar 1945 für Sie schon sehr weit weg, oder fühlt sich die Befreiung von Auschwitz »nah« an?
Für mich persönlich ist es nicht so weit weg, weil ich meine Großeltern kannte, die über ihre Überlebensgeschichten erzählt haben. Meine Kinder dagegen werden in unserer Familie niemanden mehr treffen, der die Schoa überlebt hat. Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen der dritten Generation, die Schoa-Überlebende noch kennt oder kannte, und zwischen der vierten Generation, bei der das nicht der Fall ist. Dieser Übergang könnte zu einer emotionalen Distanz führen.
Wann waren Sie das erste Mal in Auschwitz?
2014, beim durch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) organisierten »March of the Living«, dem Marsch der Lebenden, eine Gedenkveranstaltung für Jugendliche und junge Erwachsene. Das war meine erste Reise in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.
Wie hat die Gedenkstätte auf Sie gewirkt?
Die Dimension und das Ausmaß dieses Ortes des Grauens werden mir in Erinnerung bleiben. In Birkenau konnte ich mit bloßem Auge von einem Ende des Vernichtungslagers nicht das andere Ende sehen. Das hat mich wirklich ergriffen. Aber der »March of the Living« hat bei all diesem Schrecken auch eine sehr optimistische Botschaft, wenn Tausende von jungen Menschen mit israelischen Fahnen an den Gleisen entlanglaufen. Die Botschaft »Wir haben überlebt« wird durch dieses Bild vermittelt wie durch kein anderes.
Wie alt waren Sie bei Ihrem ersten Besuch?
30.
Ab welchem Alter sollten junge Menschen Auschwitz besuchen – 16 oder 18 Jahre?
Ich würde hier keine Altersgrenze ziehen. Beim »March of the Living« nehmen regelmäßig auch Schüler aus elften Klassen teil. Die Reise hatte bei ihnen die gleiche Wirkung wie bei älteren Teilnehmenden. Deshalb denke ich, dass sie auch für 16- und 17-Jährige absolut geeignet sind.
Was ist der Vorteil, als jüdischer Jugendlicher mit einer jüdischen Gruppe zu reisen?
Ich denke, es fällt dann leichter, sich der eigenen Familiengeschichte zu öffnen und seine Gedanken zu teilen. Gerade in denjenigen Fällen, bei denen es zu transgenerationalen Traumatisierungen kam, die von Großeltern an Eltern übertragen wurden, bietet die Reise in einer jüdischen Gruppe einen geschützten Raum.
Finden Sie es wichtig, dass Schüler ausgerechnet Auschwitz besuchen?
Auschwitz hat natürlich als größtes Vernichtungslager eine besondere Dimension. Aber die Grausamkeit dieses Völkermords kann auch in anderen Gedenkstätten wirksam vermittelt werden. Beim »March of the Living« besuchen die Gruppen aber nicht nur Orte der NS-Verbrechen, sondern auch Orte, an denen es früher ein blühendes jüdisches Leben gab. Das gibt der Reise durch Polen eine zusätzliche wichtige Perspektive, weil die Teilnehmenden realisieren, dass jüdisches Leben in Polen bis heute nahezu völlig ausgelöscht wurde – anders als in Deutschland, wo es heute wieder mehr als 100 jüdische Gemeinden gibt.
Wenn Sie einige Zeit nach ihrer Teilnahme am »March of the Living« mit den jungen Menschen sprechen, die Auschwitz besucht haben, wie beurteilen Sie die Wirkung der Reise?
Für die meisten ist es eine prägende Erinnerung für ihr ganzes Leben. Dadurch werden sich die Teilnehmenden bewusst, dass sie Zeugen der Zeitzeugen werden. Ein großer Teil der Gruppen kannte selbst noch Überlebende, sie haben Auschwitz gesehen, sich intensiv damit beschäftigt. Und sie werden an anderer Stelle über diesen systematischen Völkermord authentisch berichten können. Wenn man diesen Ort einmal gesehen hat, ist das auch eine Verpflichtung.
Der nächste »March of the Living« beginnt am 19. April. Ist es jetzt noch möglich, sich dafür anzumelden?
Ja, natürlich. Dieses Jahr reisen wir zuerst nach Krakau, Auschwitz und dann nach Warschau.
Wie viele Teilnehmer können maximal mitfahren?
In einen Bus passen 50 Personen. Aber in Jahren mit großer Nachfrage haben wir noch einen zweiten Bus organisiert.
Mit dem Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sprach Ayala Goldmann.