Herr Schuster, am 26. April haben Sie Rotraud Ries in den Ruhestand verabschiedet, die seit 2009 das heutige »Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken« geleitet hat. Wann haben Sie sie kennengelernt?
Ich habe Frau Ries 2009 das erste Mal bei dem Auswahlverfahren für die Besetzung des damaligen »Dokumentationszentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken« kennengelernt. Wir haben uns bei der Auswahl der Bewerberin nicht getäuscht, denn was wir erhofft haben, ist wahr geworden.
Zu den ersten Projekten von Frau Ries gehörte das 2010 veröffentlichte Buch »David Schuster. Blicke auf ein fränkisch-jüdisches Leben im 20. Jahrhundert«.
Die Idee zu dem Buch kam von Frau Ries. Als Sohn freue ich mich darüber, dass das Buch das Wirken und Wesen meines Vaters sehr gut wiedergegeben hat – seine Offenheit gegenüber den Würzburgern und den Brückenauern nach seiner Rückkehr 1956 nach Deutschland. Es war ja nach der Schoa nicht so selbstverständlich, offen auf alle zuzugehen. Die Hand zur Versöhnung zu reichen, das war seine Maxime, die ich auch so von ihm gekannt habe. Die Gründung des Dokumentationszentrums geht maßgeblich auf seine Initiative zurück.
Von Frau Ries kam auch der Impuls zur 2011 erfolgten Umbenennung des »Dokumentationszentrums« in »Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken«.
Wir hatten die Überlegung, eine weibliche Namenspatronin zu finden, und ich finde, dass Frau Ries hier eine sehr glückliche Hand bewiesen hat. Die Gleichberechtigung und die Frage, inwieweit sie Realität ist, beschäftigen unsere Gesellschaft auch heute. Da ist Johanna Stahl mit ihrem Engagement für Frauenrechte immer noch ein Vorbild.
Eine breite Öffentlichkeit hat von 2013 bis 2015 die Wanderausstellung »Mitten unter uns« zum Landjudentum in Unterfranken vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert erreicht.
Frau Ries hat die Idee zu der Ausstellung entwickelt und zur Reife gebracht. Damit hat sie sich ganz erhebliche Verdienste erworben. Die Ausstellung hat gezeigt, wie stark die jüdischen Menschen in die Gesellschaft integriert waren und keine abgeschlossene jüdische Gemeinschaft gebildet haben. Jüdisches Leben war selbstverständlich, was diesen Menschen später zum Verhängnis werden sollte, die der Meinung waren: »Wir sind integriert«.
Große Beachtung hat 2019 und 2020 auch die Ausstellung »Der Spurenfinder« über den 2014 verstorbenen Heimatforscher Michael Schneeberger erfahren.
Schneeberger war ein jüdischer Heimatforscher aus Kitzingen, der leider viel zu früh verstorben ist. Sein großer Nachlass, den er der jüdischen Gemeinde vermacht hat, liegt jetzt im Johanna-Stahl-Zentrum. Besonders beeindruckt haben mich die Ausstellungsgegenstände, die das praktische Wirken von Schneeberger zeigen. Es ist beeindruckend, was man auch ohne das Studium der Geschichte bewirken und erreichen kann.
Welche Rolle hat Rotraud Ries bei der Entstehung des dezentralen Denkmals »DenkOrt Deportationen 1941–1944« gespielt, das 2020 am Würzburger Hauptbahnhof eröffnet wurde?
Die Überlegungen zum »DenkOrt« sind ursprünglich im »Arbeitskreis Stolpersteine« entstanden, in dem sich Frau Ries sehr engagiert hat. Sie hat die Realisierung mit ihrem breiten Wissen über die unterfränkischen Juden und die entsprechenden Quellen massiv unterstützt und war neben der ehemaligen Stadträtin Benita Stolz einer der wesentlichen Motoren für die Entstehung des »DenkOrts«.
Welche Perspektiven sehen Sie für das Johanna-Stahl-Zentrum in der Zukunft?
Frau Ries wird zum 30. Juni in den Ruhestand gehen. Mit Riccardo Altieri haben wir einen kompetenten Nachfolger gefunden. Er kennt das Johanna-Stahl-Zentrum aus seiner Volontärszeit. Ich verspreche mir, dass die Arbeit dort im Sinn von Frau Ries weitergeführt wird.
Was schätzen Sie persönlich an Frau Ries besonders?
Besonders schätze ich an Frau Ries ihr offenes und herzliches Wesen und die gute Zusammenarbeit zwischen dem Johanna-Stahl-Zentrum und der jüdischen Gemeinde. Die Kontakte beruhten immer auf einer kooperativen Basis und hatten die Interessen der Gemeinde stets im Auge.
Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden sprach Stefan W. Römmelt.