Die Brunnenstraße führt schnurgerade von Mitte zum Gesundbrunnen, 2,3 Kilometer, unter dem Asphalt rollt die U8. Ganz im Süden, am Rosenthaler Platz, wurde im Februar der jüdische Student Lahav Shapira so heftig verprügelt, dass er später mehrfach im Gesicht operiert werden musste.
Etwa einen Kilometer nördlich liegt das jüdische Gemeindezentrum, auf das im Oktober 2023 zwei Molotowcocktails flogen. Und fast am Ende der Straße, vor einem Barber-Shop, wurde am vergangenen Freitag einem jüdischen Ukrainer die Hand gebrochen. Dies sind die Fälle, die Schlagzeilen machten.
Zur Anzeige gebracht wurden etliche mehr. »Und es passiert hier beinahe täglich etwas, ohne dass die Behörden davon erfahren«, schätzt Anna Chernyak Segal, Geschäftsführerin der Gemeinde Kahal Adass Jisroel.
Anna Chernyak Segal sitzt in ihrem Büro, draußen windet sich der Stacheldraht die Dächer entlang. Niemand soll in den Hof der Gemeinde klettern können, in dem die Kita-Kinder spielen, die Betenden zum Kiddusch zusammenkommen, die Rabbinatsstudenten eine Kaffeepause einlegen.
»Hier drinnen fühlen sich die meisten von uns sicher«
»Hier drinnen fühlen sich die meisten von uns sicher«, sagt Chernyak Segal. Der Gebäudeschutz wacht vor der Tür, seit dem versuchten Brandanschlag steht auch ein Streifenwagen daneben, Straßensperren verhindern, dass Fremde zu nah herankommen. Doch draußen im Viertel haben die Gemeindemitglieder zunehmend Angst. Vor dem koscheren Supermarkt, auf dem Schulweg und sogar im eigenen Treppenhaus.
Sie wurden beleidigt, bespuckt, angerempelt. Aus vorbeifahrenden Autos schreit es: »Kindermörder«. Kürzlich flog ein Pflasterstein auf zwei Mitglieder. »Seit dem 7. Oktober ist es eindeutig mehr und heftiger geworden«, sagt Chernyak Segal. Der Angriff am vergangenen Freitag habe sie in seiner Brutalität dennoch erschrocken.
Wenige Stunden vor Schabbat wurde ein 54-jähriger Ukrainer auf der Höhe der Brunnenstraße 93 angegriffen. Ein arabisch aussehender Mann sei auf ihn zu gerannt, habe »Free Palestine« gerufen, ihn zu Boden geworfen und sei dann mit einem E-Roller auf ihn zugerast, erzählt der Verletzte später der 17-jährigen Mirjam L., die gerade auf dem Weg nach Hause war, als sie den Mann aus ihrer Gemeinde erkannte. »Sein Shirt war eingerissen und seine Hand dick geschwollen«, erinnert sich die Schülerin.
»Er und seine Frau, die dazugekommen war, sahen sehr verängstigt aus. Sie hatten etwa eine Stunde auf die Polizei gewartet. Die Nachbarn haben nur gestarrt, gefilmt, aber keiner hat geholfen.« Mirjam übersetzt für die Polizisten. Sie spricht Russisch, wie der Verletzte, ihre Eltern stammen wie er aus der Ukraine, sie lebt im selben Viertel. Angst habe sie keine, sagt Mirjam, sie sehe ja nicht so jüdisch aus. Den Verletzten aber habe der Angreifer wohl an den heraushängenden Zizit als Jude erkannt, vermutet sie.
Kippot werden unter Kappen versteckt, Zizit in die Hosen gestopft
Nach dem Vorfall warnt der Vorstand seine Mitglieder in einer Chat-Nachricht: Sie sollten ihr jüdisches Erscheinungsbild, wenn möglich, minimieren. »Das widerspricht im Prinzip unserem ganzen Selbstverständnis«, sagt Anna Chernyak Segal. Die Gemeinde Kahal Adass Jisroel sei immer stolz gewesen, traditionelles Judentum selbstbewusst zu leben, auch nach außen. Doch nun werden wieder Kippot unter Kappen versteckt, Zizit werden in die Hosen gestopft. Die dunkelrote Schuluniform wurde abgeschafft. Zu häufig wurden selbst die Kleinsten auf der Straße angefeindet.
Gemeindemitglieder lassen sich nichts mehr nach Hause liefern, ändern ihre jüdisch klingenden Namen auf den Taxi-Apps. »Wir müssen uns eben selbst schützen«, sagt Chernyak Segal. In ihrem Büro stapeln sich die Schreiben der Polizei: Beinahe alle Ermittlungen wurden ohne Erfolg eingestellt, die Täter nie gefasst. Auch nach dem Angreifer vom Freitag fahndet der Staatsschutz noch vergeblich. Zeugen gibt es – wie fast immer – offiziell keine. Obwohl etliche zugesehen und gefilmt haben.
Und der Verletzte? Nach dem Schabbat wird bei ihm ein Bruch festgestellt, Gemeindemitglieder besuchen die Familie. »Der Mann war von dem Krieg in der Ukraine traumatisiert, sein psychischer Zustand hatte sich erst langsam wieder stabilisiert«, erzählt Chernyak Segal. Doch nun gehe es ihm wieder sehr schlecht, er wolle die Wohnung nicht verlassen. Der Angriff geschah dort, wo er Zuflucht finden sollte.