Beim Anblick seines Podiums fiel Moderator Aaron Buck der Spruch von den »zwei Juden – drei Meinungen« ein. Es werde keine zwei geben, die sich einig seien. Er hatte vier, die es durch ein Gespräch über »Jüdischsein in Deutschland« zu begleiten galt. Anlass für die Aussprache im Jüdischen Gemeindezentrum am Jakobsplatz war der von Laura Cazés herausgegebene Sammelband Sicher sind wir nicht geblieben mit zwölf Beiträgen.
Vier der Mitwirkenden hatte das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde nach München eingeladen: Laura Cazés, in München geboren als Kind argentinisch-polnisch-jüdischer Eltern und heute für die Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) in Frankfurt am Main tätig, dazu den gebürtigen Frankfurter und heutigen Berliner Ruben Gerczikow, Mitherausgeber eines Buches über »Junge jüdische Politik in Deutschland« unter dem Motto »Wir lassen uns nicht unterkriegen« sowie 2019 bis 2021 Vizepräsident der European Union of Jewish Students (EUJS) und der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD).
Nicht in Deutschland geboren sind Shahrzad Eden Osterer, die in Teheran aufwuchs und im Alter von 20 Jahren zum Studium nach Deutschland kam, sowie Erica Zingher, die mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling aus Transnistrien zunächst in einem Aufnahmelager in Nürnberg landete und heute als Journalistin in Berlin lebt. Sie sind alle zwischen 1984 und 1997 geboren, ihre jüdische Sozialisation verlief sehr unterschiedlich.
heimat Bereits 1998 veröffentlichte der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik einen Sammelband unter dem programmatischen Titel Zuhause, keine Heimat? Junge Juden und ihre Zukunft in Deutschland. Es war nicht die erste Bestandsaufnahme, doch ihr Titel korrespondiert gut mit dem ein Vierteljahrhundert später von Laura Cazés herausgegebenen Buch.
Auf das Thema kam sie über die Jubiläumsbilanz »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«, und in ihrem eigenen Essay im Buch legt sie ihr Verständnis von Sicherheit dar: »Ein sicherer Ort ist der, an dem nicht jemand anderes bestimmt, wer ich zu sein habe.« Das Sicherheitsgefühl von Ruben Gerczikow, der viel über Antisemitismus im öffentlichen und digitalen Raum forscht, werde, wie er einräumte, immer wieder auf die Probe gestellt. Da würden auch Kameras und Zäune nicht helfen.
Erica Zingher, die unter anderem über postsowjetische Migration und jüdisches Leben in Deutschland schreibt, sieht im Umgang mit den jüdischen Kontingentflüchtlingen »eine Geschichte der verpassten Chancen«. Für die Beschreibung der Situation ihrer Familie, die 2020 unter dem Titel »Was wächst auf Beton« in der »taz« erschien, erhielt sie den Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus. Bei aller Anerkennung sieht sie, dass Projektionen von innen und außen »Normalität verhindern«.
armutsfrage Ihr Beitrag im Buch, »Geschenke kosten«, ist der Armutsfrage gewidmet. Die Floskel, man habe die jüdische Zuwanderung als »Geschenk«, quasi einen Vertrauensbeweis in die deutsche Demokratie, verstanden, macht sie zu Recht zornig. Sie verbindet damit die Forderung, auf »leere Worte, erschöpfte Phrasen zu verzichten und das Leben von rund 70.000 Menschen real zu verbessern. Ihnen das zu geben, was längst überfällig ist. Denn ja, Geschenke kosten«.
Wichtig sei, dass die junge Generation die Verantwortung annehme.
Das Stichwort »verdrängte Wut« beschäftigte die Runde insgesamt. Shahrzad Eden Osterer verdrängt nichts mehr. »Aufgewachsen in einem System der Propaganda«, im Iran durchwegs antijüdisch, kam sie nach eigenen Worten mit »romantischen Vorstellungen nach Deutschland«. Die hat sie offenbar aufgegeben. Ihre Erfahrung: »Das Gedenken an die Schoa wird als Hindernis gesehen für die Aufarbeitung der kolonialen deutschen Verbrechen.« Und so argumentiert die Journalistin, wo sie kann, gegen neue Ausdrucksformen des Antisemitismus, die sich im postkolonialen Diskurs breitmachen.
Für Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist nichts erfüllender als Begegnungen mit der jüngeren Generation, zumal wenn diese bereit sei, sich mit der eigenen Identität zu befassen und damit selbstbewusst in gesamtgesellschaftlichen Debatten aufzutreten. Ihr Grußwort an die jüdische Diskussionsrunde zum Auftakt des Abends erwies sich als Resümee, Vision und Appell.
perspektiven Ausgehend vom Veranstaltungstitel stellte Knobloch fest: »In diesem Land jüdisch zu sein, das bedeutete immer, sich einer ganzen Phalanx von Fragen auszusetzen, für deren Beantwortung ein Leben in der Regel zu kurz ist.« Sie betonte ferner, »dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland kein Monolith ist, weder regional noch sozial und schon gar nicht religiös«.
Ausgehend von der Zustandsbeschreibung »Eine Gemeinde – aber viele Perspektiven« sprach sie von einem »Miteinander der Nebeneinander«. Bei alledem gelte: Sicher am jüdischen Leben in Deutschland sei bis heute nichts, »leider noch nicht einmal die physische Existenz, von der gesellschaftlichen Position ganz zu schweigen«.
Wichtig sei, dass die junge Generation die Verantwortung annehme, so resümierte die IKG-Präsidentin, und eigene Antworten auf die Fragen der jüdischen Identität gebe. Genau darauf ließ sich die vierköpfige Runde – unter Leitung von Aaron Buck, der selbst ehrenamtlich im IKG-Vorstand tätig ist – temperamentvoll und kompetent ein.
Laura Cazés (Hrsg.): »Sicher sind wir nicht geblieben. Jüdischsein in Deutschland«. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022, 224 S., 24 €