Mit schnellem festen Griff rupft Adriana Altaras ein Stück Teig aus dem Panettone, gibt es Sam, greift wieder hinein, zieht ein weiteres Stück heraus, gibt es Kerem: »Das ist wie Schabbat«, sagt die Schauspielerin, während sie die nach Orange duftenden Stückchen an alle fünf verteilt. Aus der schmalen Küchenecke riecht es nach schwarzem Tee. In wenigen Augenblicken ist er eingeschenkt und dampft in den Tassen vor sich hin. In dem kleinen Raum, der zum Hinterhof zeigt, ist die Heizung so warm wie die Außenwand.
Trotzdem haben alle hochrote Gesichter, stehen mit erschöpft-glücklichem Grinsen in ihren Körpern, die noch nicht wissen, ob sie sich setzen wollen oder lieber stehen bleiben. An jenem Freitag ist der einwöchige Schauspiel-Workshop, den die fünf belegt haben, zu Ende gegangen. Jeden Tag kamen sie hier in Schöneberg zusammen, in dem hellen, lang gezogenen Probenraum, zogen die Schuhe aus und spielten, sprachen, tanzten, bewegten, beschwiegen das, was in ihnen steckt.
An diesem letzten Tag nun zeigten sie ihrer Mentorin Adriana Altaras, wie sie deren Beobachtungen und Anmerkungen umgesetzt haben. Wie Lara, die auf den Boden sinkt, nachdem sie den Probenraum durch die hintere der beiden Türen betreten hatte. Sie trägt ein Jeanshemd, viele Beutel – etliche Lasten in Tote Bags.
Erschöpft, mit Lachen, mit Blicken
Ihre Figur wirkt erschöpft, starrt ins Leere, während sie sich langsam in den Raum vortastet und mit jedem Schritt zu der Person wird, die Geflüchteten hilft mit allem, was sie geben kann: mit fast mütterlicher Wärme, mit Lachen, mit Blicken – alles holt sie aus sich heraus, legt es wie einen weichen Schal um sie – zurück bleibt eine Menschenhülle. Alisa liegt auf dem kalten Boden. Ihr Spiel, vielleicht ist das ihr Alltag. Vielleicht hilft sie Geflüchteten. Professionelle Schauspielerin? Die sei sie nicht. Niemand von den fünf Kurs-Teilnehmern ist an einem Theater. Sie sind einfach nur hier im Workshop der Jüdischen Kunstschule (JKB). Genauer gesagt, in der Meisterklasse von Adriana Altaras.
Identität Dieser Kurs ist eine von insgesamt sieben Meisterklassen, die sich mit Schauspielerei, Malerei, Literatur, Visuellen Künsten, Bildhauerei, Dramaturgie und Performance befassen. Geleitet werden sie von renommierten Künstlerinnen und Künstlern; unter anderem von der Schriftstellerin Lana Lux, dem Regisseur Wojtek Klemm oder dem Direktor der Fotoabteilung an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem, David Adika.
Auf junge Künstlerinnen und Künstler zu treffen, sich mit ihnen auszutauschen, ihr Können zu besprechen und ihnen vielleicht auch Denkanstöße mit auf den Weg zu geben, das ist Ziel der Seminare, die sich an jüdische und antisemitismuskritische Studierende sowie junge Erwachsene richten.
Muscheln, Steine – etwas zum Anfassen
Eine von ihnen ist Alisa, die mit einer Tasse Tee im Nebenraum sitzt. Etwas auf dem Sprung, versucht sie, den Tee nicht zu heiß zu trinken. Sie hat es eilig, denn sie hat noch einen privaten Termin. Mit der Eile im Hinterkopf fliegen ihre Augen über eine Karte, die Altaras geschrieben hat. Viele Wünsche und einen kleinen Gruß von einer Nordseeinsel. Muscheln, Steine – etwas zum Anfassen.
Auch Kerem hat eine Karte bekommen, sie liest die schnelle Schrift von Altaras und lächelt. Wer hätte gedacht, dass wir das am Ende der Woche erreichen, fragt die Schauspielerin auf Englisch in den Raum. Englisch, Deutsch, Hebräisch, Ukrainisch – Sprache durch Gesten, Gefühle zur Musik, ein Tanz um einen Papierbrunnen, stapfendes Rennen über den Probenraumboden, Schreien, Lachen.
»Use die Sprache«, sagt Adriana Altaras zu den Teilnehmern.
Wenige Wochen zuvor in Kreuzberg in einem dunklen Eingang eines alten Fabrikgebäudes. Es riecht nach kaltem Stein und kaltem Gras. Durch eine quietschende Tür, durch noch eine, dann gibt das Licht des Beamers langsam Taschen zu erkennen, Schuhe, Beine und letztendlich die blassen Gesichter der Fotoklasse von David Adika.
»Das ist ein sechs mal sechs Mittelformat«, erklärt David. Lässig und entspannt hängt er auf seinem Stuhl. In Jeans, nachtblauem Zip-Hoodie. Sein Blick ist bei aller körperlichen Entspannung konzentriert.
Acht junge Künstlerinnen und Künstler haben sich für die Meisterklasse mit Adika angemeldet. Sie werden ihre Fotoarbeiten zeigen, werden – manche vielleicht zum ersten Mal – eine professionelle Kritik erhalten. Ein bisschen ist es wie der Moment der Wahrheit. Doch erst einmal ist David noch mitten in seiner Präsentation. Er zeigt die Abschlussarbeit einer der Bezalel-Absolventinnen: Lior Yegers »Techno-Botanical Legend«.
Begegnungen und Dialoge mit Passanten
Yeger hat eine Sony-Kamera vor ihrem rechten Auge angebracht. Der Sucher der Kamera wird zu ihrem Auge. Sie wird zur Kamera und läuft durch Jerusalem, hält dabei Begegnungen und Dialoge mit Passanten fest. Jemand, der ihr ins Auto hilft, eine Suche nach einem Buch in der Bibliothek, Intimität zu Hause. Eine Mensch-Kamera, die sich abmüht, die schnauft und fast blind Momente einfängt. Als das Video von Yeger zu Ende ist, ist es im Raum so still, dass David Adikas »That was intense« wie durch einen Lautsprecher gerufen klingt.
lächeln Mit einem Lächeln dreht er sich auf seinem Stuhl um und sagt: »Now itʼs time for your presentation.« Nimrod ist als Erster an der Reihe. Der junge Mann mit einem wärmenden Westover über dem Kapuzenpulli fängt ganz zaghaft an zu erzählen. Wer er ist, woher er kommt, was seine Arbeit prägt.
Es ist der Anfang einer halben Stunde, in der es um Identität gehen wird, um eine Reise auf den Spuren der Familie und um Sichtbarkeit. Nimrod ist der Einzige aus der Meisterklasse, der das, worüber er spricht, gedruckt und online lesen möchte. Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind zurückhaltend, scheu, haben insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 im besten Fall nur Bedenken, aber größtenteils Angst vor Antisemitismus.
Nimrod ist aus Leipzig angereist, wo er studiert. Geboren wurde er in Israel, die Familie seiner Mutter hat türkische Wurzeln, die seines Vaters jemenitische. Seine Großmutter floh vor den Nazis aus Deutschland, erst nach Triest und dann mit dem Schiff nach Israel, wo sie in einem Kibbuz arbeitete. Viele Verwandte wurden in der Schoa ermordet. Darüber hat Nimrod ein kleines Buch gemacht. Es heißt Ewiges Andenken und liegt auf dem Tisch.
Ein Gespräch, das es so nie gegeben hat
Es ist eine Fotoreportage, in der er sich mit seiner Großmutter unterhält – ein Gespräch, das es so nie gegeben hat, eine Frau, die er nicht kennenlernen konnte. Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen der obere Teil abgeschnitten wurde – halbe Gesichter. Wessen Gesichter sind das? Wer beantwortet Nimrods Fragen an seine Großmutter? Fragen wie »Was mochte er (der Großvater, Anm. d. Red.) am meisten zu essen? Fühlst du dich wohl? Ist es überhaupt wichtig?« Ewiges Andenken ist eine neue Form des Gedenkens.
David Adika hört dem jungen Mann zu, ab und zu kommentiert er. Es ist ein künstlerischer Austausch ohne Ego, sondern mit einem fast kollegialen Anliegen. Adika ist glücklich und auch aufgeregt, mit den jungen Leuten zusammenzuarbeiten. »Wenn ich jungen Künstlern helfen kann, dann bedeutet mir das viel – gerade in diesen Zeiten.«
Anfang Februar werden die Arbeiten der Teilnehmenden in der Alten Münze gezeigt. Sie werden alle zusammenkommen, an einem Ort der Kunst, mit ihrer Kunst. So viel ist sicher.