Gedankenverloren sitzt Lihi Mugrabi am Schalter 821 in der Abflughalle des Berliner Flughafens auf ihrem gigantischen Koffer. Sichtlich erholt und doch irgendwie mit ihren Gedanken woanders, lässt die junge Israelin mit den braunen langen Haaren und dem blassen Teint die letzten Minuten in Berlin vergehen. Ihre Freundinnen tauschen amüsiert Urlaubsbilder aus.
Es ist die Zeit, den Mädels-Trip noch einmal Revue passieren zu lassen. Denn bald wird der Check-in der Fluglinie EL AL losgehen und Lihi sowie ihre fünf gleichaltrigen Freundinnen auf dem Weg zurück nach Israel sein.
selbstbewusstsein »Ich habe schon ein leicht mulmiges Gefühl. Mein Militärdienst beginnt im September in Aschkelon, und ich fürchte, dass meine Mutter sich große Sorgen machen wird«, erzählt die 18-Jährige aus Tel Aviv – wenn auch nicht ohne eine Spur Zuversicht und Selbstbewusstsein.
Gemeinsam mit Yali, Shira, Yuval, Adi und Shy hat sie sechs Tage – und wohl auch Nächte – Berlin unsicher gemacht. »Wir haben so viel gegessen«, lacht Yali, ebenfalls 18 Jahre alt, und ihre Augen fangen an zu leuchten. »Wir hätten nicht gedacht, wie günstig Burrata sein kann!« Die italienische Frischkäsespezialität kostet in Israel mehr als das Dreifache.
Verglichen mit den israelischen Preisen fühle man sich in Berlin wie im Schlaraffenland.
Eigentlich waren sie nur in dem Bezirk unterwegs, in dem sich ihr Hotel befand, genauer gesagt, in Berlin-Mitte. Dort hatten die jungen Frauen die große Auswahl an für sie erschwinglichen Restaurants genossen. Verglichen mit den israelischen Preisen fühle man sich in Berlin wie im Schlaraffenland. Dafür hätte man ausnahmsweise auch mal nicht ganz koscher gespeist. »Wir hatten so viel Spaß zusammen und konnten uns einfach treiben lassen.«
Zukunft Zurück in Israel, werden bald andere Dinge eine Rolle spielen. Fünf aus der Mädchen-Clique haben den Militärdienst, der in Israel für Männer wie Frauen gleichermaßen obligatorisch ist, um ein Jahr verschoben. In der Zwischenzeit werden die gerade volljährig gewordenen jungen Frauen in einem Internat für Kinder aus sozialen Brennpunkten eine Art Zivildienst leisten.
»Wir wissen nicht, wann wir das nächste Mal in Berlin sein werden«, sagt Shira, und man sieht ihr an, dass sie sich Gedanken über die Zukunft macht. »Schließlich ist es nicht leicht, beim Militär und gleichzeitig mal weg zu sein.« Auf jeden Fall ist Berlin für Israelis ein beliebtes Reiseziel. Bereits vor Beginn der Sommersaison zählte die Statistik von Januar bis Mai 2022 insgesamt 24.430 Gäste aus Israel mit 90.349 Übernachtungen. Im Durchschnitt verbrachten die Israelis in diesem Zeitraum 3,7 Tage in Berlin und stellten einen Anteil von drei Prozent aller Übernachtungsgäste.
Dabei spiegeln diese Zahlen nicht das gesamte Bild wider. Denn zahlreiche Israelis sind im Besitz einer weiteren Staatsangehörigkeit, weshalb viele von ihnen mit einem EU-Pass einreisen und nicht als solche erfasst werden. Und wie hoch das Touristenaufkommen in den aktuellen Ferienmonaten wirklich ist, lässt sich wohl erst im Herbst sagen. Dann nämlich veröffentlicht das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg die nächsten Zahlen.
Was sich aber heute bereits sagen lässt: Noch liegen die Besucherzahlen von 2022 unter dem Niveau des letzten Jahres vor Beginn der Corona-Pandemie, und zwar um ziemlich genau 36,5 Prozent.
Sommerabend »Was war der Grund für Ihren Aufenthalt?«, diese Frage stellen die Sicherheitsleute von EL AL beflissen jedem einzelnen Passagier. Was ausgerechnet Israelis von der Mittelmeerküste in die Großstadt Berlin lockt, scheint auch im dritten Jahr der Pandemie manchmal rätselhaft. Die Begeisterung ist trotzdem irgendwie greifbar – selbst an so einem Ort mit seinen endlosen Schlangen von Menschen und Bermudadreiecken für das Gepäck.
Erschwingliches Essen, viele Einkaufsmöglichkeiten und die kulturellen Angebote haben wohl auch anderen Passagieren des EL-AL-Flugs große Freude bereitet. »Meine Frau war eigentlich nur shoppen«, verrät der Wirtschaftsingenieur Rafi Brown mit einem Grinsen. »Das muss man ja auch ausnutzen«, lacht sie und wird herzlich von ihrem Gatten gedrückt. Beide sind nicht zum ersten Mal in Berlin. Es ist ihr zweiter Besuch. Diesmal war die Stadt Endstation ihrer zehntägigen Fahrradtour durch Dänemark und Schweden.
Beim ersten Aufenthalt hatte sie noch ein israelischer Guide von Denkmal zu Denkmal geführt, diesen Sommer wollten sie einfach nur das Berliner Flair genießen, Bootfahren auf der Spree und den Sommerabend in einer Bar ausklingen lassen. Und natürlich der israelischen Hitze entkommen. Über die jüngste Gaza-Krise machen sich beide dagegen keinen Kopf: »Wir Israelis sind das gewöhnt.«
Schulferien Auffällig viele Lehrer haben sich außerdem am Abflugschalter eingefunden. Das liegt natürlich an der Jahreszeit – schließlich sind derzeit auch in Israel die Schulen geschlossen, es sind Ferien.
Vom 21. Juni bis zum 31. August haben Schüler und Lehrkräfte dieses Jahr Zeit, in den Urlaub zu fahren. So hatten sich aus Haifa der Schuldirektor Amit Meitner Doron mit seinen beiden Söhnen sowie die Lehrerin Diogavit mit ihrer engsten Reisefreundin Orly für eine Woche nach Berlin aufgemacht. »Mein Sohn hatte gerade seine Barmizwa. Wir Männer hatten hier eine wirklich tolle Zeit. Jeder ist hier so höflich.«
Auch den beiden Reise-Freundinnen hat ihr Berlin-Aufenthalt gefallen. »Wir haben so viel gesehen! Den Zoo, das Anne-Frank-Museum in den Hackeschen Höfen, das Holocaust-Mahnmal neben dem großen Tiergarten.«
Von den steigenden Preisen in Berlin und der aktuellen Inflation hätten sie kaum etwas gespürt. »Hier ist alles am Ende noch günstiger als bei uns – vor allem der kleine Luxus. Ein schönes Restaurant oder Dinge wie Kosmetika. Vor allem das 9-Euro-Ticket war toll!«, schwärmt Orly.
In die Freude am Berlin-Urlaub mischten sich auch Sorgen über die Situation in Israel.
Meir Malka, ein junger Lehrer aus Jerusalem, sieht das ähnlich. Er ist zum ersten Mal nach Berlin gekommen, nachdem er bereits eine Woche zuvor schon in Frankfurt verbracht hatte. Gemeinsam mit seinem Freund hat er viel jüdische Kultur in Berlin kennengelernt und sich am meisten von der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße begeistern lassen. Keiner der israelischen Lehrer hatte übrigens Familie oder Freunde vor Ort. Die Hauptstadt bald wiederzusehen, stehe aber trotzdem für sie auf dem Programm.
Wahlheimat Eine der Deutschen, die auf diesem Flug nach Israel sitzen, ist die 30-jährige Friederike Tauben. Israel sei ihre Wahlheimat, und dort ist sie auch als Kindergärtnerin einer jüdischen Tagesstätte in Beer Sheva tätig. »Ich bin schon seit sieben Jahren in Israel«, erzählt sie. »Kennengelernt habe ich dort auch meinen Freund.«
Israel hat in den letzten drei Jahren ebenfalls viele Touristen einbüßen müssen. So registrierte die Statistikbehörde 2019 noch 4,5 Millionen Einreisen von Ausländern, 2020 dagegen waren es nur noch 830.000. Vor der Pandemie stellten Deutsche mit 289.000 Touristen nach Amerikanern, Franzosen und Russen die viertgrößte Gruppe. Israelis wiederum flogen am häufigsten in die Türkei, gefolgt von Frankreich und Österreich. Deutschland liegt erst auf Rang vier. Und Berlin ist noch vor Bayern das beliebteste Reiseziel in Deutschland.
Sobald der EL-AL-Check-in beendet ist, geht es in den Security-Bereich. Vielleicht bleibt noch Zeit für ein letztes Bären-Souvenir. Und hoffentlich schafft es auch der Koffer an Bord.