Dieses Brot gibt es nur drei Mal im Jahr. Das Interesse daran ist groß, entsprechend auch die Zahl der Vorbestellungen. Für viele Menschen in der Rhön gehören sie einfach dazu – die Berches, das »jüdische Brot« aus dem thüringischen Städtchen Geisa. Die Berches von Bäckerin Elisabeth Schneider haben ein Geheimnis: »Wenig Hefe, lange Garzeit!« Schneider betreibt mit ihrem Mann Uwe die Bäckerei Faber, einen traditionsreichen Familienbetrieb.
Die Berches (oder Barches, hebräisch: Challot) kennt Schröder schon aus ihrer Kindheit. Sie hat die Backtradition von ihrem Vater übernommen, dieser von seinem Vater und damit auch die Geschichten, die sie von dem einstigen – vermutlich jüdischen – Nachbarn erzählten: »Er hat im Haus unter uns gewohnt und war wohl auch oft beim Backen dabei. Aber ich kann niemanden mehr fragen. Ich weiß nur Bruchteile, die man mir als Kind erzählt hat.«
Was ihr in Erinnerung geblieben ist: »Wenn Schabbat war, wurden am Tag vorher Berches gebacken.« Und an noch etwas erinnert sich Elisabeth Schröder – an das Ritual, dass das Brot mit einem Tuch abgedeckt werden musste und erst danach gebetet wurde.
Elisabeth Schröder hat die Tradition von ihrem Vater übernommen.
Jüdinnen und Juden sucht man heute in der Kleinstadt in der Rhön im Ulstertal vergebens. Über das einstige Landjudentum in dieser Region ist nicht mehr viel bekannt. Vielleicht auch, weil die meisten Menschen in kleinen und ärmlichen Verhältnissen lebten. Geisa gehörte lange Zeit zum Verwaltungsgebiet Fulda. Bis ins 19. Jahrhundert hinein durften Juden mancherorts nicht einmal Grundbesitz haben. Viele lebten auch, erklärt der Historiker Johannes Mötsch, der lange Jahre das Thüringische Staatsarchiv leitete, nach den ständigen Vertreibungen »in speziellen Häusern, die man ihnen zur Verfügung stellte«. Erst später durften sich Juden in den Dörfern dauerhaft niederlassen.
Moritz Goldschmidt ist vielleicht der berühmteste Vertreter der einstigen jüdischen Gemeinde Geisas. Er kam aus dem nordhessischen Bischhausen bei Eschwege, war Lehrer und Botaniker und liebte »seine« Rhön. Der Kontakt zum örtlichen Apotheker führte dazu, dass beide gemeinsam die Natur durchstreiften und Pflanzen erforschten. Zwischen 1910 und 1915 veröffentlichte Goldschmidt Teile seines mehrbändigen Werks Flora des Rhöngebirges. 300 Mappen mit mehr als 20.000 Pflanzenpräparaten sind erhalten geblieben und liegen heute im Archiv des Senckenberg Naturmuseums in Frankfurt am Main. Moritz Goldschmidt starb 1916 in Geisa.
Jüdische Familien waren integriert
Die jüdischen Familien waren integriert. Zeitzeugen berichteten noch vor zwei Jahrzehnten, man habe vor 1939 friedlich nebeneinander gelebt: Die einen betreuten am Schabbat die Tiere der anderen und heizten den Ofen – und umgekehrt erledigten die anderen diese Arbeiten dann am Sonntag für ihre Nachbarn. Und die Berches wurden in der alten Bäckerei von Elisabeth Schneiders Vater und Großvater gebacken.
Das erzählt Schneider, die heute in ihrer Backstube steht. Aber: Ein jüdisches Brotrezept ohne jüdische Gemeinde? Eine Tradition ohne Menschen? Wie geht man damit um? Elisabeth Schneider überlegt kurz. »Ich habe das nicht hinterfragt, woher das kommt. Es war einfach so, bei uns gab es das Festtagsbrot immer an christlichen Feiertagen. Und so machen wir das heute noch.« Egal ist ihr die Geschichte aber keineswegs: Und so beschäftigt sie sich seit den 90er-Jahren mit der Tradition und dem Hintergrund der Berches.
Im Brotmuseum in Kassel war Schneider ein Foto ins Auge gefallen. Darauf zu sehen: ein Brot, das sie an ihr Brot aus Geisa erinnerte. Es gab also auch anderswo Berches, nicht nur in der Rhön, dachte sie damals.
Auch ein anderer Brotexperte hat sich auf die Spuren des geflochtenen Schabbatbrots begeben. Christoph Schaub lebt in Köln und betreibt die Plattform www.heimbaecker.de. Sein Wissen über »das gute, alte Brothandwerk« ist gefragt, auch bei jungen Leuten. Schaub entdeckte eines Tages die Barches. »Das beste Rezept habe ich in dem mehr als 100 Jahre alten Ausführlichen Kochbuch für die einfache und feine jüdische Küche von Marie Elsasser aus dem Jahr 1901 gefunden«, berichtet er.
Helles Weizenmehl war früher eine Rarität
Für Elsassers Rezept benötigt man helles Weizenmehl. Das war früher eine Rarität. Es wird mit gekochten Kartoffeln vermengt. Genutzt wird, so Schaub, ein Vorteig »und eine lange Stockgare von acht Stunden, was gute Voraussetzungen für ein leckeres, bekömmliches Brot sind. Interessant ist auch, dass man von der damaligen ›Presshefe‹ 15 Gramm auf 500 Gramm Mehl nehmen musste und erst dann die acht Stunden Stockgare folgten. Das heißt, die Hefeaktivität muss wesentlich geringer als heute gewesen sein«.
Schaubs Rezept für »Hochzeitsberches« wird zusätzlich mit etwas Olivenöl und Zucker verfeinert. Alles ergibt einen länglichen Laib, auf den ein Dreier- oder Viererzopf gelegt wird. »Quellen berichten auch von zwei Fünferzöpfen. Auf jeden Fall ist die Optik eine Wucht.« Weil die Berches geschmacklich eher ein neutrales Brot seien, passe Süßes ebenso gut wie Salziges dazu, meint Schaub.
Jüdische und nichtjüdische Bauern lebten in Geisa offenbar friedlich nebeneinander.
In der Backstube der Bäckerei Faber gibt es noch eine Zutat: lange Teigführung. Das heißt: Die Hefe bekommt zum Entwickeln Zeit, und die Poren des Brotes werden dadurch ganz besonders fein. »Da wird ein guter Weizenteig gemacht, der geformt wird wie ein Weißbrot, obendrauf kommt ein Teigstrang, dann wird alles in Mohn gewälzt und gebacken.«
Nur so entwickle sich dieser Duft, der für Elisabeth Schneider gewissermaßen auch ein Duft ihrer Kindheit ist, den sie bis heute liebt. Diese Berches, das Geheimnis und auch der Geschmack – es sollte nie etwas Alltägliches werden, sondern immer etwas für besondere Tage bleiben. Das war ihr und ihrem Mann, dem Bäckermeister, immer klar. Deshalb würden sie dieses Brot auch nur an Feiertagen backen.
Was Schneider freut, ist, dass viele Menschen, auch im Umland, wenn jüdische Feiertage anstehen oder Begegnungen stattfinden, die Geisaer Berches bestellen. Uwe Schneider bäckt sie dann – in kleinen Mengen.
Das Paar freut sich, dass sein Brot nach wie vor so gefragt ist und die Tradition der Vorfahren bewahrt wird. Was passiert, wenn die Schneiders eines Tages ihren Laden und die Backstube aufgeben müssen, ist ungewiss – doch das Rezept wird bleiben.