Porträt der Woche

Seit 80 Jahren Kommunist

Schreibt noch Bücher und geht demonstrieren: Theodor Bergmann (98) Foto: PPfotodesign/Leif Piechowski

Ich glaube, in meinem Alter muss man ein bisschen Ruhe geben und die anderen machen lassen. Es fällt mir vieles nicht mehr so leicht wie früher, ich brauche ab und zu Hilfe. Ich bin jetzt 98. Bis 2001 habe ich alles allein gemacht, doch dann hatte ich ein Problem mit dem linken Fuß. Jetzt hilft mir eine Frau, die mit der Rente nicht auskommt und bei mir putzt, einkauft und kocht. Ich bin nicht isoliert und allein. Ich habe viele Freunde und noch einiges zu tun. Zum Beispiel halte ich Vorträge an Gymnasien.

Jeden Tag lese ich die Zeitung. Früh um sechs stehe ich auf, wasche mich und turne. Nach dem Frühstück setze ich mich an die Arbeit und bereite meine Vorträge vor. Einmal am Tag mache ich einen großen Spaziergang durch den Wald rund ums Haus hier in Stuttgart. Danach ist Kaffeetrinken, und danach geht’s weiter mit der Arbeit. Abends um sieben esse ich Abendbrot, danach lese und schreibe ich noch ein bisschen. Um zehn Uhr schalte ich das Licht aus. Davor lese ich noch ein paar schöne Sachen – Heine, Brecht oder Mörike.

Ich habe weder Fernseher noch Internet. Fernsehen brauche ich nicht, ich habe so viel gesehen in meinem Leben ... Und was das Internet betrifft: Ich habe gute Freunde, die alles für mich aus dem Internet heraussuchen und meine Manuskripte in den Computer eingeben. Ich bin gut versorgt, ich bekomme viele Anregungen – und auch Kritik. Man darf sich nicht einspinnen auf seine eigene Meinung.

Kindheit Ich wurde 1916 in Berlin geboren – mitten im Ersten Weltkrieg. Ich war das siebte von acht Kindern. Mein Vater war Rabbiner. Er hat uns aber nicht sehr beeinflussen können. Ich kann in der Religion bis heute keine Antwort auf unsere großen Fragen finden. Ich glaube, dass es an uns selbst ist, die Welt zu verbessern.

Ich musste Berlin früh verlassen. Am 7. März 1933 – es war mein 17. Geburtstag –, da klopfte morgens um halb fünf die SA an die Tür und wollte das Haus durchsuchen. Meine Mutter war geistesgegenwärtig genug und sagte, sie sollten am nächsten Tag wiederkommen, weil heute meine Großmutter beerdigt würde. Anderthalb Stunden später brachte mich Mutter zum Anhalter Bahnhof mit Fahrkarte, Pass, ein bisschen Gepäck und fünf Reichsmark. Ich fuhr zuerst nach Saarbrücken, wo ich auf meine Ausreisepapiere nach Palästina wartete.

Im Nahen Osten angekommen, arbeitete ich dann auf verschiedenen Plantagen. Aber ich blieb nicht lange, ich wollte zurück nach Europa, mich politisch betätigen. So ging ich in die Tschechoslowakei und studierte dort. Kurz vor dem Einmarsch der Deutschen floh ich dann nach Schweden. Dort habe ich zuerst auf einem Bauernhof gearbeitet, später in einem Bergwerk. Erst im Frühjahr 1946 konnte ich nach Deutschland zurückkehren.

Meine Eltern und die meisten meiner Geschwister lebten da schon seit etlichen Jahren in Palästina. Alle haben überlebt – bis auf meinen Bruder Alfred. Er war 1933 einige Zeit im KZ. Als er wieder draußen war, ging er in die Schweiz, machte in Basel seinen Doktor und arbeitete dann als Arzt in verschiedenen Krankenhäusern. Er hatte die besten Beurteilungen von der Schweizer Ärztevereinigung, und es gab Ärztemangel – aber offenbar hatte das deutsche Konsulat in Basel seine Auslieferung verlangt. Die Behörden in der deutschen Schweiz waren sehr hitlerfreundlich, und so haben sie meinen Bruder am 20. April 1940 an Deutschland ausgeliefert. Er wurde in Berlin ermordet.

Redakteur Als ich wieder in Deutschland war, wollte ich meine alten Freunde, kritische Kommunisten, wiedertreffen. Ich habe alle besucht, und wir beschlossen, eine linke Organisation zu gründen, die unabhängig ist sowohl von der russischen als auch von der westlichen Besatzung. Das war unsere Idee, die sich aber nicht verwirklichen ließ. So war ich einige Jahre Redakteur einer links-sozialistischen unabhängigen Zeitschrift, habe dann meine Examina gemacht und bin später Professor für Internationale Agrarpolitik an der Universität Hohenheim geworden.

Mein ganzes Leben bin ich viel und gern gereist. Mich haben die Reformversuche in Osteuropa interessiert. Später habe ich Forschungsvorträge überall in der Welt gehalten. Den ersten in Indien, Pakistan und Sri Lanka über die Mechanisierung der Landwirtschaft. Ich habe viel dabei gelernt – es war ein akademischer Austausch.

Indios Später hat mich auch interessiert, was Evo Morales, der Anführer der Coca-Bauern und heutige Staatspräsident, in Bolivien macht. Deswegen bin ich vor ein paar Jahren mit einer ehemaligen Studentin – sie ist inzwischen Professorin – nach Bolivien gereist und habe mir auf 4200 Metern Höhe die Tierhaltung bei den Indios angeguckt. Ich bin ein offener Mensch. Ich weiß, dass ich Jude bin und dass es Verpflichtungen gegen Antisemitismus und gegen die Verbrechen der Nazis gibt, aber ich denke internationalistisch. Ich weiß, dass Israel ein Land ist wie andere – mit Reichen und Armen, mit Sozialisten und Dummköpfen, mit wirklich Religiösen und solchen, die den lieben Gott zitieren, wenn sie sich prügeln wollen.

Ich bin kritischer Kommunist. Meine Lehrer waren nie mit Stalin einverstanden. Sie vertraten die Meinung, dass es sozialistische Länder geben muss. Sie wollten eine selbstständige Politik in Deutschland, sie wollten einen demokratischen Kommunismus, sie waren gegen die Moskauer Prozesse, aber sie waren natürlich der Meinung: Wenn Stalin gegen Hitler kämpft, müssen wir die Sowjetunion unterstützen – nicht Stalin, sondern die Sowjetunion. Man muss immer unterscheiden zwischen Regierung und Land!

Wie es sich für einen Kommunisten gehört, war ich natürlich auch dieses Jahr am 1. Mai demonstrieren – vom Marienplatz bis zum Marktplatz. Ich mache aber nicht jeden Mist mit – manchmal wird auch sinnlos demonstriert –, aber an einem Datum, das eine solche Bedeutung hat, gehe ich auf die Straße. Das war schon immer so. Ich bin ein Mensch mit eigener Meinung, aber ich bin auch ein Mensch mit Disziplin, und ich glaube, in der Linken brauchen wir ein bisschen mehr Disziplin und Gemeinsamkeit. In der Partei Die Linke gibt es alles Mögliche. Wir sind eine junge Partei. Da gibt es Verrückte und auch Leute, die gegen Israel sind – aber bei uns wird diskutiert. Ich glaube, wir haben im Moment sehr kluge Vorsitzende.

100. Geburtstag Seit Längerem habe ich den Plan, ein Buch herauszubringen über die großen Reformer im Kommunismus. Das ist mir ein wichtiges Anliegen, weil ich denke, dass diese großen Veränderungen von vielen einfach ignoriert werden. Der Kommunismus ist heute anders als zu Stalins und Maos Zeiten. Ich sehe, dass die Kommunisten gelernt haben und heute anders handeln.

Das Buch wollte ich zusammen mit dem Potsdamer Zeithistoriker Mario Kessler und anderen machen. Mario hatte ursprünglich vor, es zu meinem 100. Geburtstag herauszubringen. Doch so weit im Voraus will ich nicht planen. Was wir zu meinem 100. Geburtstag machen, hängt davon ab, ob der Kopf dann noch arbeitet.

Ich bin seit 33 Jahren zu Hause. Als ich 1981 emeritiert wurde, hätte ich noch weitermachen können, doch meine Frau Gretel war krank. Da wollte ich nicht im Büro sitzen. Also zog ich mich von der Universität zurück, habe aber noch Kontakt gehalten zu Studenten und Doktoranten. Später dann habe ich mich mit meinen Lieblingsthemen beschäftigt – vor allem das Goethe-Institut war mir sehr wohlgesonnen, weil ich nie ein Honorar verlangt habe.

Sie haben mir einige große Reisen angetragen: nach Südostasien, nach Frankreich und nach Skandinavien. Da habe ich Vorträge an landwirtschaftlichen Instituten und Hochschulen gehalten. Ich hatte auch ein paar Aufträge, für den Deutschen Entwicklungsdienst Gutachten zu erstellen. Da ich aber oft »Schlechtachten« geschrieben habe, kamen bald keine Aufträge mehr. Nun ja, ich habe mich nicht darum gerissen.

Aufgezeichnet von Anina Valle Thiele

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