Er fiel auf. Unter den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Schwerin, die mit einem Bus nach Berlin in die Synagoge Rykestraße angereist waren, »war er einer, der über Kenntnisse dessen verfügte, was hier vorne vor sich ging. Das war Oljean Ingster, der ganz dabei war, sich allerdings nicht als Akteur am Gottesdienst beteiligte. Noch nicht, muss man sagen, denn es sollte anders werden«.
So erinnert sich Hermann Simon, Beter der Synagoge, an seine erste Begegnung mit Ingster vor etwa 60 Jahren. Nun ist der Kantor im Alter von 95 Jahren gestorben. Am Donnerstag spricht Rabbiner Boris Ronis auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee das Kaddisch für ihn.
bescheidenheit Seine Freundlichkeit, sein Interesse an vielen unterschiedlichen Themen und seine Bescheidenheit hatte er sich immer bewahrt. Und wahrscheinlich war es auch ihm zu verdanken, dass aufgrund seiner Zuverlässigkeit und Begeisterung die Gottesdienste über Jahrzehnte immer regelmäßig stattfanden.
Vor knapp 60 Jahren fragte ein Mitglied des Synagogenvorstands, ob er nicht einspringen könne, da Rabbiner Ödön Singer nur ab und zu in der Rykestraße im Einsatz war. Aber er musste samstags doch immer arbeiten, war sein erster Gedanke. Denn Ingster war Abteilungsleiter im Funkwerk Köpenick. Trotz seiner Bedenken sagte er zu. Wenn er einmal eine Melodie hörte, dann war sie in seinem Kopf aufgenommen.
Oljean Ingster lernte als Kind Jiddisch und Hebräisch, studierte die Tora und war sowohl mit der sefardischen als auch mit der aschkenasischen Liturgie vertraut.
hohe feiertage Das Problem mit den Samstagen blieb allerdings noch bestehen, sodass Ingster die »versäumte« Arbeitszeit immer in der Woche nachholen musste. Zu den Hohen Feiertagen nahm er sich Urlaub, um amtieren zu können. Erst als sich das Staatssekretariat für Kirchenfragen der DDR einschaltete, wurde es besser. Wenn kein Rabbiner da war, übernahm Ingster damals einige seiner Aufgaben.
Zu seinem Haus in Woltersdorf gehört ein 2000 Quadratmeter großer Garten, in dem Lebensgefährtin Ingrid »die Chefin« ist, wie er einmal lächelnd sagte. Sein Bereich im Haus waren die Bücherregale, denn er las immer und viel, solange es ihm möglich war. Dabei beschäftigten ihn hauptsächlich der Holocaust und seine Folgen. Die Schoa ließ ihn nicht los. Lange Zeit mochte er nicht darüber reden, erst spät sprach er darüber.
Sein Vater hatte eine Fabrik im oberschlesischen Proszowice. Ingsters Mutter arbeitete für ein Unternehmen in der Chemie-Branche. 1939, als Oljean elf Jahre alt war, musste die Familie fliehen. Zwei Jahre später wurden sie für den Transport in ein Vernichtungslager zusammengetrieben. Oljean, der als Einziger aus seiner Familie überlebte, kam nach Rzeszów. Dort musste er in einem Flugmotorenwerk arbeiten, zwölf Stunden täglich, und hungerte. Acht Lager und einen Todesmarsch überlebte er. Jede Veränderung bedeutete für ihn eine Verschlimmerung.
lager In einem Wald bei Schwerin wurde er von den Amerikanern befreit. Da war er 17 Jahre alt, vollkommen abgemagert und ohne Familie. Allein Wolf-Thadeusz Epstein, ein Zahnarzt, 20 Jahre älter als Oljean und mit ihm zusammen im Lager, war bei ihm. Epstein bekam das Angebot, eine Zahnarztpraxis in Schwerin zu eröffnen – Ingster wurde sein Zahnarzthelfer, was nicht gerade sein Traumjob war. Nachmittags besuchte er die Schule und studierte später Materialwirtschaft.
In Schwerin baute Oljean Ingster die Jüdische Gemeinde mit auf. Fünf Jahre lang gestaltete er dort die Gottesdienste, bis es ihn beruflich nach Köpenick verschlug. Dass sich Menschen unterschiedlicher Religionen miteinander austauschen, lag ihm am Herzen. Sein Motto lautete: »Man muss das Richtige tun und das andere unterlassen. Ich hatte immer irgendwie einen Schutzengel. Und dadurch blieb ich am Leben.«