Darüber kann er sich immer wieder ärgern. Wenn Juri Elperin schlechte Übersetzungen liest, dann wird der sonst so freundliche und bescheidene 97-Jährige ungehalten. »›Da trafen sich zwei Herren.‹ Was ist falsch an diesem Satz?«, fragt er rhetorisch und gibt gleich selbst die Antwort: Zum Zeitpunkt der Handlung des Buches sprach man in Russland nicht von Herren, sondern von Genossen. Übersetzer müssen erst analysieren und sich dann in den geschichtlichen Kontext einarbeiten, damit sie die Atmosphäre richtig einfangen können, findet Elperin.
heimat Er muss es wissen, denn er übersetzt seit 81 Jahren. Mehr als 100 Werke der russischen Literatur hat er ins Deutsche übertragen. An seine erste Arbeit kann er sich noch sehr gut erinnern. Da war er 16 Jahre alt und mit seinen Eltern vor dem Nazi-Regime nach Paris geflohen. Er las Die hölzernen Kreuze von Roland Dorgelès und übersetzte »aus Spaß« ein Kapitel aus dem Französischen ins Deutsche.
Als seine Familie im Sommer 1933 Deutschland verlassen musste, brach eine Welt für ihn zusammen. Berlin war schließlich seine Heimatstadt, Deutsch seine Muttersprache – hier war sein Leben. Hitler habe ihn aus seiner Heimat vertrieben, betont Juri Elperin. »Ich wollte immer zurückkommen. Aber nicht als Bittsteller, sondern als vollberechtigter Bürger.«
1999 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft wiedergegeben und vom Bundespräsidenten eine Ehrenpension verliehen. »Ich bin in Berlin nicht nur angekommen, sondern fühle mich willkommen.«
Filmstoff »Das muss ein Film werden«, war Manfred Wiesners erster Gedanke, als der Regisseur und Produzent von einer Bekannten die Lebensgeschichte Elperins hörte: Zwei Weltkriege, Emigration, Dienst an der Front in der Roten Armee, Ausgrenzung aufgrund der jüdischen Religion und schließlich die Wiederkehr in sein geliebtes Berlin – Juri Elperins bewegtes Leben bietet Stoff genug für Spielfilmformate. Wiesner und sein russischer Kollege Grigory Manyuk entwickelten daraus den Dokumentarfilm Der Übersetzer.
Mit ästhetischen Schwarzweißaufnahmen und ungewöhnlichen Montagen unterstreichen die beiden Regisseure die Atmosphäre von Nostalgie und Wehmut, die Elperins Erzählungen umgibt.
Am heutigen Mittwoch hat der Film Premiere beim Jüdischen Filmfestival Berlin & Potsdam. Morgen wird er in Potsdam gezeigt. Es ist ein leiser, poetischer Film. Hauptdarsteller Juri Elperin, der mit dem Kamerateam die Städte seines Lebens besucht hat, zieht den Zuschauer von der ersten Szene an in seinen Bann – nicht zuletzt dank seiner ganz eigenen, fast literarischen Art zu sprechen.
emigration Elperin wurde 1917 als Kind russisch-jüdischer Eltern im Schweizer Davos geboren, wuchs im Berlin der Weimarer Republik auf, floh erst nach Paris, dann 1935 in die Sowjetunion – ausgerechnet zu der Zeit, als stalinistische Verfolgungen und Schauprozesse auf der Tagesordnung standen.
Seine Eltern fürchteten, dass sie als Juden und »Westler« ebenfalls abgeholt werden würden. »Aber wir hatten Glück«, sagt Elperin. Er machte Abitur, studierte Germanistik, ging 1941 zur Roten Armee, wurde später Hochschuldozent und schließlich zum wichtigsten Übersetzer russischer Literatur ins Deutsche.
Seine Familie hätte immer das Glück gehabt, besondere Menschen zu treffen, die für ihren weiteren Weg von entscheidender Bedeutung waren, glaubt er. Als etwa sein Vater 1933 von der Gestapo verhaftet wurde, stand er zehn Tage später wieder vor der Wohnungstür – ein Bekannter hatte die richtigen Worte für seine Freilassung gefunden.
Oder nach Kriegsende: Als die Familie Anfang der 50er-Jahre in Russland vor dem Nichts stand – Antisemtismus, keine Arbeit, keine Wohnung, gab es einen Bekannten, der ihnen ein Grundstück zur Verfügung stellte: In dem 22 Kilometer von Moskau entfernten Künstlerdorf Peredelkino bauten sie eine Datsche.
DDR Dort traf Elperin eine Dichterin, die ihm den Kontakt zur Zeitschrift »Sowjetliteratur für Fremdsprachen« vermittelte – er reichte eine Probeübersetzung ein, die so gut ankam, dass weitere Aufträge folgten, darunter kurze Erzählungen, Romane und Gedichte.
Schließlich wurden Mitarbeiter des DDR-Verlags Volk und Welt auf den Übersetzer aufmerksam und schickten ihm literarische Übersetzungsaufträge. Viele Werke erforderten Zeit und Fingerspitzengefühl. An der Märchensammlung Das Buch aus reinem Silber etwa arbeitete Elperin ein ganzes Jahr.
»Ich bin davon überzeugt, dass eine Literaturübersetzung die wichtige Aufgabe hat, den Lesern die Mentalität und den geistigen Reichtum eines anderen Landes näherzubringen.«
Weltliteratur Es folgten weitere Aufträge aus Westdeutschland und später von Verlagen aus der Schweiz, beispielsweise zu Autoren wie Dostojewski, Tschingis Aitmatow und Anatoli Rybakow.
Seiner Meinung nach können nur Muttersprachler gut übersetzen. Außerdem müsse man auch selbst Autor sein, um gute Übersetzungen hinzubekommen. »Aber darüber wäre ich noch bereit, zu diskutieren«, sagt er schmunzelnd.
»Mit dem Westgeld konnte ich unsere Datsche weiter ausbauen. Vier Generationen meiner Familie lebten hier – aber zugleich schwebte ich auch in ständiger Gefahr. Ich wurde beobachtet«, erinnert sich Elperin.
Entscheidungen In seinem Leben habe er drei richtige Entscheidungen getroffen. Eine davon sei der Kampf gegen die Nazis gewesen. 1941, als Hitler die Sowjetunion überfiel, hatte Elperin gerade sein Germanistik-Studium beendet. Er meldete sich freiwillig zur Roten Armee, »denn Hitler hat mein Deutschland kaputt gemacht.« Wegen seiner Deutschkenntnisse verhörte er deutsche Offiziere, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren.
1950 wurde Elperin aus der Armee entlassen, grundlos, wie er heute noch bitter sagt. Denn in der Sowjetunion breitete sich eine weitere Welle stalinistischen Terrors aus, die von zunehmendem Antisemitismus geprägt war. Als Jude sei er sowieso ein Außenseiter gewesen. »Heute habe ich jede Furcht verloren. Ich fühle mich frei.«
Mit seiner Frau Kira, einer Ärztin, ist er nun schon mehr als 60 Jahre glücklich verheiratet – das sei die zweite richtige Entscheidung seines Lebens. Und die dritte? »Dass wir zusammen vor 15 Jahren nach Deutschland gekommen sind.« Nur eines bedauert Juri Elperin: dass er nicht mehr Skifahren kann. Er habe immer viel Sport getrieben, doch nun bleibe ihm nur noch das Schwimmen.
Ehrung Seine Lebensgeschichte hat Elperin kürzlich auch Bundespräsident Joachim Gauck erzählt – als der ihm im Januar das Bundesverdienstkreuz verlieh. Sie hätten nach dem offiziellen Akt noch zwei Stunden zusammengesessen und geplaudert. Nun arbeitet er an seiner Biografie – auf Anregung des Bundespräsidenten.
Premiere am 13. Mai um 19 Uhr im Jüdischen Museum Berlin. Weitere Filmvorführung am 14. Mai um 17.30 im Filmmuseum Potsdam. Infos unter www.jffb.de/filme/der-uebersetzer