Kurz vor dem S-Bahnhof Rathaus Steglitz fährt die S1 quietschend über eine kleine Brücke, bevor sie zum Stehen kommt. Die Brücke, deren Gleise seit 1886 in die Höhe verlegt sind, ist am Freitagmorgen umringt von Bauzäunen. Autofahrer hupen ungeduldig Fußgänger an, der Bus 282 fährt an der Seite des Steglitzer Kreisels brummend in Richtung Mariendorf, in einem Fertig-Backshop am Kopf der Grunewaldstraße, gleich hinter dem Autobahnschild, das in Richtung Lichterfelde zeigt, stopfen sich Menschen Aufgebackenes zum Frühstück in den Mund und spülen es mit Cola runter.
Was würde wohl Kafka dazu sagen? Er nannte die Umgebung um das Rathaus Steglitz übrigens »meinen ›Potsdamer Platz‹« und muss – wenn vielleicht auch nicht täglich, aber doch ab und zu – an dieser Ecke vorbeigekommen sein.
Der Rathausplatz war Kafkas Potsdamer Platz.
Er wird die Grunewaldstraße mit ihrem kleinen Anstieg hochgelaufen sein, vielleicht wurde es damals bereits merklich leiser, je näher er dem Haus kam; wurde der Lärm der Straßenbahnen, die vor dem Rathaus fuhren, von den Bäumen verschluckt. Heute teilt die Lepsiusstraße den Bezirk in höhere Bauten und nun schickere Stadthäuser. An der Ecke gibt es eine Patisserie, Brioche und Café au Lait.
Das Tor zur Grunewaldstraße 13
Das Tor zur Grunewaldstraße 13 ist verwittert-schwarz. Vielleicht quietschte es damals, vielleicht auch heute – eine Vermutung, denn das Tor ist geschlossen. Nur der Blick kann die fünf Stufen erfassen und bleibt dann vor der Tür aus dunklem Holz stehen. Die unteren Fenster schützen sich mit dicken Rollläden vor Neugierigen, zwischen ihnen ist eine helle Tafel angebracht, die beschreibt, dass Franz Kafka vom 15. November 1923 bis zum 1. Februar 1924 in diesem Haus gewohnt hat.
Moderne Annehmlichkeiten hatte die Zweiraumwohnung damals: Licht, Zentralheizung. Die Miete war zwar so hoch wie die für die Wohnung zuvor in der Miquelstraße 8, aber der Schriftsteller hatte sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen. Ganz geheuer war ihm der rapide Mietanstieg, mit dem ihn seine nervige Vermieterin in Schmargendorf geärgert hatte, zwar nicht, aber die Inflation war nicht aufzuhalten. In die Innenstadt mit all ihrem Lärm und der schlechten Luft wollte der damals schon sehr kranke Franz Kafka nicht.
Ab und zu nahm er allerdings den Zug zur Friedrichstraße und ging von dort aus in die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Heute hat im Leo-Baeck-Haus der Zentralrat der Juden seinen Sitz. Und wer die vielen Treppen nach oben geht, kann voller Bescheidenheit von sich sagen: Hier ist schon Franz Kafka hochgelaufen.
In einem Brief an Robert Klopstock, den er 1921 bei einem Kuraufenthalt kennenlernte und dem er bei der Studienplatzsuche in Prag half, schrieb Kafka: »Daß Sie in die Iwriah gehen wollen, ist sehr gut, vielleicht nicht nur in die Hebräischkurse, sondern auch zu der Talmudstunde (einmal wöchentlich!, Sie werden es nicht ganz verstehn, was tut es? Aus der Ferne werden Sie es hören, was sind es sonst, als Nachrichten aus der Ferne).«
Felice Bauer besuchte er einmal im heutigen Friedrichshain.
Anfang der Zehnerjahre soll es Franz Kafka sogar einmal in den heutigen Bezirk Friedrichshain gezogen haben, um Felice Bauer im Büro zu besuchen. Bauer arbeitete im Vertrieb der Berliner Carl Lindström AG, die sich in der heutigen Karl-Marx-Allee befand. Die zweimalige Verlobte des Schriftstellers war dort im Vertrieb für den seinerzeit hochmodernen »Parlographen« zuständig, ein Diktiergerät.
Felice Bauers Eltern wohnten vor deren Umzug nach Charlottenburg im Prenzlauer Berg, an der Ecke Immanuelkirchstraße/Winsstraße, wo zu DDR-Zeiten eine Kaufhalle und bis 2019 der bekannte Supermarkt stand, der von Nachteulen nur »Disco Kaiser’s« genannt wurde. Heute stehen dort Wohnungen, die keine Schönheiten sind.
Zu Kafkas Zeiten im Steglitzer Park
Viel schöner muss es zu Kafkas Zeiten im Steglitzer Park gewesen sein. Die niedliche Anekdote von Dora Diamant, dass Franz Kafka dort einem Mädchen, das um seine verlorene Puppe weinte, über mehrere Wochen hinweg Briefe im Namen der Puppe geschrieben habe, ist einfach zu schön, um sie nicht zu glauben.
Vielleicht nahm Kafka auf einem seiner Spaziergänge den Weg, den man heute nehmen muss, um vom Stadtpark wieder in die Grunewaldstraße zu kommen. Er führt vorbei am S-Bahnhof Steglitz und an einem Einkaufszentrum, das den Namen »Das Schloss« trägt. Benannt ist das nicht etwa nach dem unvollendeten Roman Franz Kafkas, das wäre schön gewesen und auch ein bisschen kafkaesk, sondern ganz praktisch nach der Schlossstraße. Immerhin gibt es neben großen Modeketten, noch größeren Elektrofachgeschäften auch die Steglitzer »Ingeborg-Drewitz-Bibliothek«, die 274 Titel über und zu Franz Kafka im Online-Katalog hat, auch »Das Schloss«.
Michael Bienert: »Wie der Himmel über der Erde«. Kafkas Orte in Berlin (1910–1924). Hrsg. von Anette Handke und Anke Pätsch. Kleist-Museum, Frankfurt/Oder 2024, 32 S., 10 €