Warum etwas faszinierend ist, kann man nur schwer erklären. Man spürt es einfach, weil es von einem Besitz ergreift und einen fesselt. Mich lässt Odessa nicht los, meine Heimatstadt am Schwarzen Meer: 300 Tage Sonne im Jahr, ein Strand und pulsierendes Leben bis tief in die Nacht. Und mitten in dieser Stadt mit ihren breiten Straßen, Jugendstilhäusern und Kulturmöglichkeiten gab es an jeder Ecke jüdisches Leben. Das war das alte Odessa, in dem es trotz aller Sowjetpolitik über lange Zeit rund 200.000 Juden gab. Die meisten Familien waren über die Jahrhunderte aus Polen eingewandert.
Aber dieses Odessa gibt es nicht mehr. Als die Sowjetunion zerbrach, erstarkte die Ukraine. Auf einmal ging es nur noch um Nationalismus, um einen entfesselten Kapitalismus, um Geld und Macht. Deshalb sind viele von denen, die einst das jüdische Leben dieser Hafenmetropole prägten, irgendwann gegangen – verstreut in alle Welt, aufgeteilt in alle möglichen Gemeinden.
Eines Tages habe auch ich die Stadt verlassen. Ich war damals 15 Jahre alt, also noch sehr jung. Ich stamme aus einer Familie, die im Russischen der »Intelligenzia« zugerechnet wird, also dem klassischen Bildungsbürgertum. Wir waren darauf sehr stolz. Meine Großeltern waren aus Polen nach Odessa emigriert und dort heimisch geworden. Mein Vater arbeitete als Bauingenieur, meine Mutter als Ernährungswissenschaftlerin. Als ich 1985 geboren wurde, waren meine Eltern noch sehr jung. Ich wuchs deshalb bei den Großeltern auf: glücklich, behütet, gut situiert.
Jüdisch zu sein und jüdisch zu leben, war immer ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Wir sind in die Gemeinde gegangen, das war alles selbstverständlich. Von klein auf habe ich intensiv mit der Religion gelebt. Das alte Odessa hat mich mit jüdischer Schule und Internat geprägt. Doch dann hörte es auf zu existieren. Mir war sofort klar, dass auch ich gehen würde, ja gehen musste. Meine Eltern wollten bleiben. Bis heute betreibt mein Vater sehr erfolgreich ein Bauunternehmen.
Ankunft Warum ausgerechnet Deutschland? Natürlich hätte ich auch nach Tel Aviv gehen können, wo wir ebenfalls Verwandtschaft haben. Aber diese Stadt ähnelt dem Odessa der 70er-Jahre: viel Strand und viel Beton. Und es ist, als ob man von dort aus auf Europa schaut. Ich aber wollte mitten nach Europa, direkt hinein. Ich gebe zu: Wenn man in Odessa losfliegt und in Dortmund landet, ist das schon eine gewisse Umstellung. Eine Wahl hatte ich nicht. Dortmund war bei meiner Ankunft im Jahr 2000 mein erster Anlaufpunkt, denn meine Großeltern lebten inzwischen dort.
Wie ich das immer tue, so habe ich es auch dort gemacht: Ich bin zur Gemeinde gegangen, die mir einen guten Tipp gab. Man empfahl mir, die Schule auf der anderen Straßenseite zu besuchen. Dort würden viele aus der Gemeinde lernen. Erst wollte mich der Direktor gar nicht nehmen, dann nur mit einem Probehalbjahr. Schließlich habe ich aber dort erfolgreich mein Abi gemacht. Danach wollte ich studieren, etwas anderes wäre in unserer Familie kaum vermittelbar gewesen.
Aber wo studiert man in Deutschland, wenn man eine romantische Stadt wie Odessa nicht findet? Ich ging nach Heidelberg und studierte Jüdische Religion, Geschichte und Pädagogik – mein Traum. Jeden Tag lernte ich Neues, fachlich wie menschlich. Auch wurde mir klar, dass es »das Deutschland« nicht gibt, es ist in sich selbst viel zu unterschiedlich. Schon Heidelberg war eine Welt für sich, eine heile Welt. Ich pendelte jeden Tag aus Mannheim, und man sah genau die unsichtbare Linie auf der Strecke, wo die Graffiti-Schmierereien begannen und wo sie endeten.
Die Sehnsucht, in eine Großstadt mit ihrer Kultur und ihrem jüdischen Leben einzutauchen, hat mich bis heute nicht verlassen. Inzwischen wohne ich in Berlin. Hier finde ich alles: vom Theater bis zur Renaissance-Ausstellung, vom Klezmerkonzert bis zum Tanzabend der Weltmusik.
LIMMUD Mein schönstes Hobby ist, wenn man so will, meine Mitarbeit bei Limmud. Das ist ein Verein, ein Netzwerk, das jüdische Menschen mit Hilfe von Kunst und Kultur, Diskussionen und Kontroversen zusammenbringt: von liberalen bis zu orthodoxen. Als Programmkoordinatorin habe ich natürlich unendlich viel Arbeit. Jede Veranstaltung, jedes Festival erfordert eine Menge an Telefonaten und E-Mails. Aber das Gefühl, mit Menschen in einen intensiven Austausch zu treten, ist etwas Wunderbares. Hinzu kommt: Ich will der Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, was ich bekommen habe. In den vergangenen Jahren habe ich ehrenamtlich für die Malteser gearbeitet, die Telefonseelsorge unterstützt und im Frauenhaus geholfen.
Meinen vielen Papierkram kann ich nur bewältigen, weil ich auch in Zügen, in der U-Bahn und im Flugzeug arbeite. Anders ist das nicht zu schaffen. Ich sage immer scherzhaft, dass ich an jedem Bonusmeilenprogramm teilnehme.
Wenn nicht gerade Semesterferien sind, steige ich morgens am Berliner Südkreuz in den Zug und fahre nach Halle an der Saale. Dort habe ich am Seminar für Judaistik/Jüdische Studien eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Ich forsche, unterrichte und arbeite an meiner Dissertation über »Jüdische Narrative zur Pestkatastrophe«. In ein paar Wochen muss ich sie einreichen. Im Moment versinke ich in Arbeit.
FERNBEZIEHUNG In Bratislava finde ich ein wenig Ruhe. Dort lebt und arbeitet mein Freund. Er ist in St. Petersburg geboren, in den 80er-Jahren nach Kanada ausgewandert und nun für ein Unternehmen in der Slowakei tätig. Als wir uns vor gut zwei Jahren kennenlernten, gab ich ihm zunächst eine falsche Telefonnummer: Ich wollte ihn nicht. Er aber blieb hartnäckig. Gut so. Nun führen wir schon lange eine intensive Fernbeziehung. Von Berlin aus fliege ich regelmäßig nach Wien; von da ist es nicht weit bis Bratislava.
Wer weiß, vielleicht arbeite ich eines Tages als Kulturmanagerin oder Museumspädagogin in Wien. Die Stadt fasziniert mich genauso wie Odessa. Die Opern beider Metropolen hatten denselben Architekten. Und auch in Wien gibt es breite Straßen, Jugendstil und jüdisches Leben. Nur die Patina fehlt. Aber es muss nicht Wien sein, wo ich später einmal arbeite, und der Job braucht auch nicht unbedingt etwas mit dem Judentum zu tun zu haben. Ich bin da völlig offen. Ich habe zwar einen deutschen Pass, doch fühle ich mich nicht als Deutsche. Wenn ich mich zu meiner Identität erklären müsste, würde ich sagen: Ich bin jüdisch aus Odessa.
Kürzlich war ich seit langer Zeit mal wieder dort. Es war schön, im Haus meiner Eltern mein altes Kinderzimmer und das »Schularbeitenzimmer« wiederzusehen. Es berührte mich, an die Orte meiner Kindheit zurückzukehren – meiner glücklichen Kindheit. Doch ich merkte auch: Wenn man Abschied genommen hat, beginnt etwas Neues.
Aufgezeichnet von Steffen Reichert