Eben waren sie noch da. Und dann sind sie weg. Auf einen Schlag sind alle Vierbeiner verschwunden. Haben sich davongemacht. Sind davongeschlüpft durch Spalten, Lücken, offene Kellerfenster – vier, fünf Straßenkatzen, aufgescheucht durch Menschen, die ihnen zu nahe gekommen sind. Diese für die Jerusalemer Altstadt so typische Szene steht am Ende der etwa 50-minütigen geführten »Yerushalayim-Tour«.
Und sie macht Lust auf mehr, macht neugierig auf geheime Orte, die viele Gemeindemitglieder in Deutschland seit einem Jahr nicht mehr besuchen konnten. Und auch, wenn Israel langsam wieder Tourismus zulässt, wird es für viele noch dauern, die Stätten wirklich live zu sehen.
Bildschirm »Die eine oder andere Tür öffnen, Stellen zeigen, die man nicht so kennt, kleine Geheimnisse, Anekdoten verraten über diese besondere Stadt«, das möchte Schmuel Kahn (33). Er ist Israel-Guide, und was er tut, ist ihm eine Herzensangelegenheit. Die Katzen sind verschwunden. Schmuel Kahn schickt einen Gruß nach München, und dann ist er ebenfalls weg. Weg vom Bildschirm.
Bis vor einem Jahr hatte Schmuel Kahn, der ursprünglich aus der Schweiz kommt und Geschichte, Archäologie, Politik und Pädagogik studiert hat, fast täglich Menschen durchs Land geführt. Zum letzten Mal am 4. März vergangenen Jahres. Dann verlangte die Pandemie nach Maßnahmen. Israel machte dicht. An Touristen war nicht mehr zu denken. Schmuel Kahn, der seit 13 Jahren in Jerusalem lebt, seit acht Jahren als lizenzierter Tourguide in ganz Israel unterwegs ist, musste alle seine Touren absagen. »Da wusste ich, dass eine Ersatzlösung her musste.«
Erklärungen Zu Jom Hasikaron 2020, dem nationalen Gedenktag für gefallene Soldaten und Opfer von Terrorangriffen, schaltet er live auf Facebook. »Und das ist ja nun wirklich ein Tag, an dem die Präsenz des Moments eine sehr große Rolle spielt, da hat sich das sehr angeboten«, sagt Kahn. Und so hört man ihn bei der Live-Einspielung leise erklären, wo er sich befindet, was da im Hintergrund geschieht, und auf einmal heulen die Sirenen auf, die Welt steht still, und auch Schmuel Kahn verharrt.
Dieses Filmchen von knapp 20 Minuten machte Eindruck. »Das Feedback war genial«, sagt Schmuel Kahn, »und dann hat sich das verbreitet wie ein Lauffeuer.« Bis heute hat der Post weit über 1000 Aufrufe. Nelly Kranz aus München, die in ihrem Unternehmen Delegations- und Bildungsreisen durch Israel anbietet, arbeitet schon länger mit Schmuel Kahn zusammen.
Kennengelernt hatte sie ihn über ihren Mann, »die beiden waren zusammen beim israelischen Militär«, und von Anfang an war sie von der Professionalität des Guides, seinem Wissen, »vor allem seiner offenen und sympathischen Art begeistert«.
Bei den Touren ist selbst die obligatorische Kaffeepause virtuell mit eingeplant.
Mit seiner virtuellen Tour vermittelt sie ihn an NAFFO, das »Nahost Friedensforum«, später an die Israelitische Kultusgemeinde München, mit der Kahn am 11. Februar dieses Jahres durch Jerusalem »tourte«.
Schmuel Kahn nimmt mit der Zentral-wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und mit dem Zentralrat Kontakt auf, ebenso mit der Organisation von deren »Taglit«-Programm, das die Bindung junger Juden zu Israel stärken will, auch mit dem Begegnungsprojekt »Meet a Jew«, bei dem sich jüdische und nichtjüdische Jugendliche auf Augenhöhe begegnen. Sie bauen seine Touren in ihr Angebot ein, lassen sich von ihm virtuell führen, entführen aus dem Corona-Blues.
Über den Kontakt mit »Taglit« und dessen Projektleiterin Viola Shevchuk wiederum erfährt Alexander Stoler, Kulturreferent der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, von den Touren, die zu den Leuten nach Hause kommen. Am 9. Juni 2020 setzt er es aufs Programm, und viele folgen. Die begleitenden Kommentare zeigen, dass die Zuschauer von überall her kamen, ein »Schalom« von irgendwoher sandten und dass sie die virtuelle »Reise nach Jerusalem« so richtig genossen haben.
Zoom-Schaltung Schmuel Kahn zieht sehr zeitnah zu seiner angekündigten Zoom- und/oder Facebook-Präsentation durch die Jerusalemer Straßen, Gassen und Orte, die er zeigen möchte. »Es soll alles so authentisch wie möglich sein, es soll etwas Besonderes sein, es soll jetzt sein«, sagt er. Und ja, Jerusalem zeigt sich gerade sehr eigen, anders, ist viel leerer als sonst. Die Menschen tragen Masken, an der Kotel sorgen Holzkonstruktionen dafür, dass sich die Menschen nicht zu nahe kommen.
Zeichen auf dem Boden zeigen an, wo man kurz verweilen kann. Beim Zoom-Termin selbst läuft der Film dann ab, wird ergänzt durch Grafiken, durch Augenblicke, die Reisegefühl vermitteln. Dank Google Earth erhebt man sich – »Vorhang auf!« – in die Lüfte, verlässt seine Stadt, um in Israel zu landen. Wenn Schmuel Kahn die einzelnen Etappen der Tour vorab benennt, dann fehlt da als Programmpunkt auch die »Kaffeepause« nicht.
Um sinnliche Eindrücke, »die leider fast ganz fehlen und für Jerusalem eigentlich so wichtig sind«, dennoch ein wenig zu vermitteln, schnuppert er hier an einem Rosmarin-Zweigchen, pflückt sich dort eine Mini-Orange, zoomt nahe heran an die schön blühenden Anemonen.
Bei Live-Touren will Kahn für die Vor- und Nachbereitung künftig seine Filme nutzen.
Kahn ist ein Selfmademan, ausgerüstet bei seiner Vorab-Tour nur mit einem Handy und dem passenden Stativ dazu. Beim Zoom ist er dann immer auch zugegen, zeitgleich für die Zuschauer sichtbar in einem kleinen Fensterchen rechts unten, von wo aus er die Tour textlich begleitet.
Schmuel Kahn wirkt dabei voller Freude, voller Begeisterung, nimmt ab und zu einen Schluck aus einer Flasche, singt mit beim »Hava Nagila«, das im Film den Einzug des britischen Generals Edmund Allenby durchs Jaffa-Tor hinein in die Altstadt Jerusalems im Jahr 1917 begleitet.
Zettelnachricht Für die Tour, die er mit der IKG München machte, steckt er im Film sichtbar für die Gemeinde ein Zettelchen in eine Ritze der Kotel. »Das ist mir sehr wichtig, dass ich ganz individuell für meine Zuschauerinnen und Zuschauer unterwegs bin.«
In Darmstadt, auch da gab es weit mehr als 1000 Aufrufe, folgten seiner Tour begeisterte Chats: »Sooooo schön!« Viele schrieben, wie sehr sie dieser Tage Israel vermissten. Einige kündigten an, dass sie, wenn sie dann endlich selbst einmal wieder in Jerusalem sein könnten, Kontakt mit Schmuel Kahn aufnehmen würden, von ihm durch Jerusalem oder andere Stätten Israels geführt werden möchten.
Schmuel Kahn freut das natürlich sehr. Auf jeden Fall will er, auch wenn man wieder »echt« vor Ort sein kann, einige seiner Erfahrungen aus der »virtuellen Zeit« nutzen. »Zum Beispiel für Vor- oder Nachgespräche zu den Touren«. Das mache die Sache dann »einfach perfekt«.