Geflüchtete

Sehnsucht nach früher

Mit Haustieren und nur dem nötigsten Gepäck kamen nach Ausbruch des Krieges mehrere Millionen Geflüchtete aus der Ukraine auf Bahnhöfen in Deutschland an. Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE

Er kommt einfach nicht zur Ruhe. Slavik, 35 Jahre alt, Einzelhandelskaufmann, ist deprimiert, denn er möchte in seine Heimat zurück – kann es aber nicht. »Wenn wir wieder in der Ukraine leben würden, müsste ich mir die ganze Zeit Sorgen um meine Frau und mein Kind machen, dass sie von einer Rakete getroffen oder von dem ständigen Sirenengeheul traumatisiert werden«, sagt er. Um sein eigenes Leben mache er sich weniger Gedanken. »Ich war schon immer der Beschützertyp.« So bleibt er in Berlin.

Natalia stammt aus Charkiw. Sie wisse nicht, wie ihr Leben weitergehen wird, sagt die 63-Jährige, die derzeit in Dresden lebt. Ursprünglich wollte sie in ihre Heimat zurück, hat sich aber jetzt entschieden, doch noch einmal eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland zu beantragen. »Dann hätte ich mehr Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt«, sagt sie.

Wenn Natalia über ihre Erlebnisse in der Ukraine spricht, wirkt sie energisch und aufgeregt.

Seit zehn Jahren lebe sie mit der Bedrohung der Ukraine durch Russland, sagt die 62-jährige Tatjana am Telefon. Aus Donezk musste sie fliehen. Im Frühjahr 2022 kam sie in Baden-Baden an. »Lange Zeit kreisten meine Gedanken um eine Rückkehr. Aber jetzt weiß ich, dass ich meine ganze Energie ins Bleiben verwenden sollte.« Alle drei sind aus der Ukraine geflohen und versuchen, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen.

Tatjana lebt von der Grundsicherung

Tatjana lebt von der Grundsicherung. »Der Mensch kann sich an alles gewöhnen, und mit wenig Geld auszukommen, ist für mich nicht schlimm.« Geld sei für sie nicht mehr wichtig. »Ich führe hier ein ruhiges Leben, es gibt keine Bombardierungen, und ich bin nicht in Lebensgefahr.«

Im März 2022 kam sie mit ihrem Sohn und dessen Familie im Auto nach Deutschland. Zuerst wollten sie nach Basel, sie telefonierten aber während der Fahrt bereits mit Irina Grinberg, Mitarbeiterin der Jüdischen Gemeinde Baden-Baden – und blieben schließlich in der Stadt. »Aber nun bin ich allein hier, denn mein Sohn hat eine Anstellung als Arzt in Berlin gefunden und ist mit seiner Frau und seinen Kindern weggezogen.«

Sie habe rasch begriffen, dass ihr Aufenthalt in Deutschland länger dauern würde. Deshalb besuchte sie einen Sprachkurs, der von Ehrenamtlichen gegeben wird. Ein Examen konnte die Immobilienmaklerin bereits ablegen. Nun lernt sie online und mithilfe von Büchern weiter. »Ich nutze alles, was mir zur Verfügung steht.«

Als die Familie ihres Sohnes noch in Baden-Baden war, hatte sie einen aufregenderen Alltag als heute, denn sie verbrachte viel Zeit mit ihren Enkelkindern. Mittlerweile lebt sie allein in einer kleinen Wohnung etwas außerhalb des Stadtzentrums. Die Tage verbringt sie mit Spaziergängen, Gymnastik und Deutschlernen. Und sie besucht die Veranstaltungen der Jüdischen Gemeinde. »Ich hätte so gern eine Arbeit«, sagt sie. Deshalb will sie mit der deutschen Sprache vorankommen und hofft, eine Anstellung zu finden.

Natalia steht an der Eingangstür

An der Eingangstür der Jüdischen Gemeinde zu Dresden steht fast immer Natalia aus Charkiw und begrüßt jeden herzlich. Dunkle Locken fallen ihr ins Gesicht, und sie lächelt jeden an. Seit mehr als einem Jahr leistet sie einen Bundesfreiwilligendienst in der Gemeinde, der nun noch einmal um sechs Monate verlängert werden konnte. »Was ich in den vergangenen Monaten gelernt habe, ist, geduldig zu sein.« Doch wenn sie über ihre Erlebnisse in der Ukraine spricht, wirkt sie energisch und aufgeregt. »Ich komme aus der Stadt, in der es keine Ruhe mehr gibt, die ständig angegriffen und bombardiert wird.«

Als der Angriffskrieg begann, harrte sie ganz allein mehrere Tage in einem neuen Mehrfamilienhaus aus und hatte Angst. »Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte.« Am ersten Morgen nach Kriegsbeginn ging sie noch zu Apotheken, um ihre Medikamente zu bekommen. Aber alle waren geschlossen. Da hörte sie schon die Geschosse. Sie suchte einen Supermarkt auf, in dem es lange Warteschlangen gab. Ferner sorgte sie sich um die Familie ihres Sohnes. Denn die hatte sich am 24. Februar ins Auto gesetzt, mit einem einzigen Gedanken: nur weg. Ihre Enkeltochter war damals zwei Jahre alt, und ihr Sohn wollte »einfach irgendwohin, um sie zu retten«. Nach ein paar Tagen erhielt sie von ihm eine Nachricht, dass sie alle in Sicherheit und wohlauf in Lwiw seien. »Bis dahin befand ich mich in einem schrecklichen Zustand.«

Viele ihrer Freunde seien bereits wieder zurückgegangen.

Sie hatte Glück: Ihre Tochter, die damals noch in Dresden lebte, rief sie an. »Mutti, du sollst zu uns kommen.« Sie konnte zu ihr flüchten. Nach einer mehrtägigen Odyssee durch die Ukraine war sie schließlich am Ziel. »Unterwegs hatte ich zwei Tage lang nichts zu essen – was mir ganz egal war.« Drei Monate lebte sie bei ihrer Tochter und fing an, eine eigene Wohnung zu suchen und zu finden. Zufällig sah sie, dass auf derselben Etage eine frei wurde. Dort lebt sie nun mit zwei weiteren ukrainischen Frauen, die sich alle bereits seit fast 40 Jahren kennen.

»Durch den Krieg haben wir uns alle sehr verändert.« Sie möge es nicht mehr, allein zu leben. Ihre Tochter ist mittlerweile mit Kind und Ehemann nach Rostock gezogen.

Natalia, die schon in der Ukraine Deutsch gelernt hat, konnte zwischenzeitlich als Lehrerin beim Kinder- und Elternzentrum »Kolibri« unterrichten und hofft, demnächst eine »richtige« Arbeit zu finden. In Charkiw hat sie immer am Computer gearbeitet, zuletzt bei der städtischen Energieversorgung. »Viele meiner Freunde und entferntere Verwandte sind noch da, weil sie nicht wussten, wohin sie sollten.« Sie hatten keine Möglichkeit, das Land zu verlassen.

Slavik lebt mit seiner Familie in Berlin

Slavik lebt mit seiner Familie in Berlin – möchte es aber gar nicht. Lieber gestern als heute würde er wieder nach Kyiv ziehen. Dort könnte sein Kind eine Kita besuchen, und sie könnten in Ruhe leben. Er zeigt ein Foto von seiner Hochzeit vor ein paar Jahren. Die Haare hatte er sich zur Glatze abrasiert, stattdessen trägt er einen Bart. Glücklich schaut er in die Kamera. Doch Unbekümmertheit und Ruhe gibt es derzeit nicht für ihn. Morgens hört er als Erstes ukrainische Nachrichten. Erst danach koche er sich einen Kaffee und fange mit seiner Arbeit an.

In Kyiv ist er aufgewachsen. Mit drei, vier Jahren kam seine Familie nach Deutschland, wo er die jüdische Kita an der Delbrückstraße besuchte. Als Erwachsener war sein Leben davon geprägt, dass er mal in der Ukraine, mal in Deutschland lebte. 2018 ging er endgültig nach Kyiv.

Als seine kleine Familie im März 2022 wegen des Angriffskriegs floh, kam sie erst einmal bei seinen Eltern unter, die Berlin nicht verlassen hatten. »Es dauerte ein bisschen, bis wir eine eigene Wohnung fanden, und obwohl ich ein sicheres Einkommen habe, sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine Steuern bezahle, war es schwer«, sagt er. Sie hätten viele Absagen verdauen müssen, mit Argumenten wie »keine Kinder, keine Flüchtlinge, keine Ausländer«.

Eine Anlaufstelle wurde für die Familie »Nanoʼs Kidsclub«, eine integrative Kinderbegegnungsstätte für ukrainische Flüchtlingsfamilien. »Alle drei gehen wir oft dahin, mein Kind kann dort mit ukrainischen Kids spielen, wir treffen Gleichgesinnte, und ich kann meine Sachen als Einzelhandelskaufmann erledigen.« Einen ukrainischen Kindergarten habe er nicht gefunden – und in einen russischen mag er sein Kind nicht geben. Deshalb habe er schon überlegt, es selbst in die Hand zu nehmen und eine ukrainische Kita aufzubauen. »Aber die Bürokratie ist unglaublich.«

Wenn der Kidsclub schließt, wechseln sie sich mit der Oma bei der Kinderbetreuung ab. »Meine Frau möchte auch nach Hause. Ich hingegen wünsche mir, dass sie ihr Leben genießen kann.« Es reiche, dass er wegen der Nachrichtenlage immer genervt sei. Viele ihrer Freunde seien bereits zurückgegangen.

Am Morgen des Überfalls herrschte Panik im Wohnzimmer.

Als der Krieg begann, war er gerade unterwegs nach Kyiv. Noch am Abend vor dem ersten Angriff überlegte er sich, zu seinen Schwiegereltern 500 Kilometer weiterzufahren, wo gerade seine Frau und sein Kind waren. Am nächsten Morgen herrschte Panik im Wohnzimmer – wegen des Kriegsbeginns. Auch seine Schwiegereltern seien nach Deutschland geflohen, nach Hamburg. Mittlerweile sind sie wieder in der Ukraine.

Eine weitere Sorge treibt ihn um: Wie geht es weiter, wenn Trump in den USA wieder an die Macht kommt? »Dann ist alles vorbei.« Putin werde sich die Ukraine einverleiben wollen. Ein bisschen Hoffnung gebe ihm, dass eine Weltmacht wie Russland es bisher nicht geschafft hat, so ein kleines Land wie die Ukraine kaputt zu bekommen. »Ich wünsche mir, dass mein und unser Leben wieder so ist, wie es früher war.«

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