Besonders schlimm ist es in Soweto nach Fußballspielen. Wenn die Orlando Pirates oder die Kaizer Chiefs spielen, kommen kurz nach dem Abpfiff deutlich mehr Patienten als üblich mit Messerverletzungen in die Notaufnahme des Chris-Hani-Baragwanath-Krankenhauses, der größten Klinik in Afrika. Der Alkohol fließt noch freizügiger als ohnehin schon, und damit steigt die Gewaltbereitschaft: Oft stammen die Wunden von abgebrochenen Bierflaschen. Ein Ort der Schwerstarbeit: Für ein Einzugsgebiet von drei Millionen Menschen gibt es 3.200 Betten, einige Hundert Mediziner arbeiten hier. Einer davon bin für vier Monate ich.
Seit Mitte August verbringe ich einen Teil meines Praktischen Jahres in dem riesigen Township Südafrikas. Ich studiere eigentlich Medizin in Berlin, wo ich bisher die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Viele meiner Kommilitonen sind nach Kapstadt gegangen. Ich bin aktuell der Einzige in Johannesburg, die meisten halten wohl die Horrorgeschichten über die Stadt fern.
Als ich hier ankam, war mir schon etwas mulmig zumute. Der erste Tag war seltsam, zumal ich das erste Mal auf der linken Straßenseite gefahren bin. Aber ich hatte über Facebook Kontakt mit Menschen aus der jüdischen Gemeinde aufgenommen. Sie haben mir die ersten Tage Anfang August wirklich erleichtert. Nirgendwo in Afrika gibt es so viele Juden wie in Johannesburg, im Nordosten der Stadt hat man manchmal das Gefühl, in Israel zu sein.
Meine Eltern machten sich anfangs Sorgen um mich, aber standen der Idee, nach Johannesburg zu gehen, ziemlich offen gegenüber. Seit sie mitbekommen haben, wie gastfreundlich die Südafrikaner sind, haben sie sich einigermaßen beruhigt. Kürzlich saßen sie in Tel Aviv im Café und haben eine Familie aus Südafrika kennengelernt. Prompt haben die mich dann hier nach Hause zu sich eingeladen. Diese Selbstverständlichkeit, immer wieder Menschen einzuladen, gehört zu meinen beeindruckendsten Erfahrungen.
Ich lebe in einer jüdisch geprägten Gegend, bei einem Arzt, der Zimmer an Mediziner untervermietet und eine richtig nette Wohngemeinschaft organisiert. So lief die Eingewöhnung reibungslos. Anders als der Krankenhausalltag, der in Südafrika etwas unorganisierter abläuft als in Deutschland.
energy-Drinks Ich stehe um halb sechs auf und versuche, so viel wie möglich zu frühstücken, um Kraft für den Tag zu tanken. Ohne Kaffee geht es um diese Uhrzeit nicht, obwohl ich kein großer Kaffee-Trinker bin. Es gibt einen koscheren Laden in der Nähe, dort kaufe ich vor 24-Stunden-Schichten ein Fertiggericht. Dazu gibt es Energy-Drinks, damit ich die Nacht über wach bleibe.
Mit dem Mietwagen fahre ich dann nach Soweto zur Arbeit. Das Auto ist ein Muss. In meinen ersten Wochen im Krankenhaus habe ich zu viele Leute gesehen, die mit Sammeltaxis, die das öffentliche Verkehrssystem dominieren, verunglückt sind. Sie sind schlicht zu gefährlich.
In den Krankenhausalltag bin ich regelrecht reingefallen. Nach einer kurzen Vorstellung ging es sofort los. Die ersten beiden Wochen streikten die Krankenschwestern, das hat das Chaos noch ein wenig verschärft. Ich habe in dieser Zeit viele Aufgaben von ihnen übernommen wie das Wechseln von Verbänden. Einige erschienen zum Dienst, mussten aber spätestens um 16 Uhr gehen. Danach war es zu riskant, weil sie als Streikbrecherinnen Aggressionen ausgesetzt waren – eine wurde von einer Brücke geworfen und starb.
Keine Frage: Der größte Unterschied zu deutschen Krankenhäusern ist die mangelnde Organisation in Südafrika. Manchmal fehlt ein kleines medizinisches Gerät, um eine Aufgabe zu machen. Die Schwestern helfen mir nur selten. Dann muss ich selbst die Sachen zusammensuchen, und es dauert meist doppelt so lange wie die eigene Aufgabe. Bei einer Computertomografie können Ewigkeiten vergehen, bis der Patient hineingefahren wird. Nach der Aufnahme ist dann keiner da, um ihn zurückzufahren oder die Ergebnisse abzuholen. Aber man stellt sich das jetzt vermutlich schlimmer vor, als es ist. Irgendwie funktioniert es.
Schusswunden Ich habe mich schnell an die Vielzahl der schweren Verletzungen gewöhnt. Es mag komisch klingen, aber medizinisch kann das durchaus eine reizvolle Herausforderung sein. Stich- und Schusswunden sowie schwere Autounfälle erlebt man hier alle paar Tage, weit öfter als in deutschen Krankenhäusern. Viele Ärzte distanzieren sich emotional von den Schicksalen, die hinter den Patienten stehen, und sehen mehr das Problem. Anders geht es nicht.
Das gelingt auch mir bislang ganz gut. Ich versuche, zielorientiert zu arbeiten, um mein Pensum zu schaffen – auch wenn ich natürlich Mitleid habe, wenn eine Mutter mit ihrem Kind sechs Stunden auf eine Behandlung warten muss. Einige der älteren Ärzte – hoch qualifizierte Leute übrigens – sind allerdings wirklich frustriert, wenn sie völlig betrunkene Patienten mit Stichwunden behandeln müssen. Oft haben diese schon Narben von ähnlichen Verletzungen. Es ist die eigene Unvernunft, die eine große Rolle spielt. Der Alkohol kostet unzählige Leben, er ist immer wieder mit im Spiel, bei Verbrechen und Verkehrsunfällen.
HIV Ein ungutes Gefühl begleitet mich auch angesichts der hohen Zahl HIV-positiver Kranker. Neulich hat der Chirurg in der Nacht eine Assistenzkraft für eine Operation gesucht. »Du weißt, dass der Patient infiziert ist«, sagte er. »Im Trauma sind doch die meisten HIV-positiv«, antwortete ich. Da wurde mir bewusst, dass dieses Risiko längst Teil meines Alltags geworden war.
Wenn ich Blut abnehme, achte ich weit mehr als in Deutschland darauf, dass ich mich nicht steche. Das ist mir bislang zum Glück gelungen. Sollte es doch einmal passieren, müsste ich einen Monat lang eine sogenannte Postexpositionsprophylaxe nehmen. Mit dieser Medizin ist eine Ansteckung zwar sehr unwahrscheinlich, aber die Nebenwirkungen sind gewaltig: Durchfall, Abgeschlagenheit, Übergeben – das ist kein Vergnügen.
Ich habe im Krankenhaus bislang vor allem die Schattenseiten Sowetos kennengelernt. In Johannesburg erlebe ich jeden Tag auf der halbstündigen Autofahrt zum Krankenhaus den allgegenwärtigen Kontrast von Arm und Reich. Aber Soweto steht nicht mehr nur für Armut und Trostlosigkeit. Der Township hat inzwischen auch viele vergleichsweise wohlhabende Bewohner, wirklich schöne Gegenden voller Lebensfreude und Freundlichkeit. Es gibt eine Fahrradtour durch Soweto, die möchte ich möglichst bald machen.
Fitnessstudio Doch ich arbeite viel, vor allem will ich ja lernen. Nur den Freitag halte ich mir im Rotationsplan mit den anderen Studenten frei. Doch nicht, weil ich extrem religiös bin, sondern weil es einfach nett ist, Zeit mit der Gemeinde zu verbringen. Ansonsten nutze ich den Feierabend für Sport und um abzuschalten. In Berlin gehe ich fünf Mal die Woche ins Fitnessstudio, hier habe ich mich nun endlich mal angemeldet. Es hat nur bis um 21 Uhr auf, aber mein Alltag in Südafrika beginnt und endet früher. Manchmal jogge ich auch, was aber durchaus ein bisschen Gewöhnung braucht, weil Johannesburg auf 1.700 Meter Höhe liegt.
Ich sauge jeden Eindruck auf. Dauerhaft aber werde ich hier nicht arbeiten – das hat aber weniger mit Südafrika zu tun als mit meinem Wunsch, in Israel zu leben. Im November besuchen mich Freunde, und wir werden ein bisschen durchs Land reisen. Während meines Aufenthalts will ich auch wenigstens ein paar Tage eine Safari machen. Ohne die kann man Südafrika doch nicht verlassen.
Meine Erfahrungen halte ich noch bis Mitte Dezember in einem Blog fest. Man findet ihn im Internet unter der Adresse: www.jburgblog.wordpress.com
Aufgezeichnet von Christian Putsch