Sie sind ein glückliches Paar, in sich ruhend, so hat man das Gefühl. Menschen, die nicht aufzählen, was ihnen fehlt, sondern sagen: Gott sei Dank, alles gut. Menschen, die viel durchgemacht haben, um beieinander zu sein. Vor vielen Jahren zog Jonathan aus Israel nach Berlin, er organisierte jüdische Abende für junge Menschen. Sarah und Jonathan (Namen von der Redaktion geändert) lernen sich in der Synagoge kennen. Dann heiraten sie.
Ein Zimmer, Küche, Bad. Das musste erst einmal reichen. Beide arbeiten in Berufen, in denen man viel hilft, aber nicht allzu viel verdient. Sie wünschen sich ein Kind und überlegen: Sollten sie an den Stadtrand ziehen? Oder doch nach Israel?
Zwei Striche erscheinen auf dem Teststreifen
Im Herbst wird Sarah schwanger. Zwei Striche erscheinen auf dem Teststreifen – das bedeutet neben der Vorfreude auch viel Stress für das junge Paar. Eine größere Wohnung haben sie inzwischen gefunden, aber die Zimmer sind in desaströsem Zustand. Doch wenn Sarah über die Wochen vor dem 7. Oktober spricht, sagt sie: »Ich wünschte, wir hätten die Probleme von damals.«
Sie sprechen alles für den Ernstfall durch: Organspende, Beerdigung, letzter Wille.
Wie so viele observante Juden erfahren Jonathan und Sarah erst verzögert von dem Angriff der Hamas. Die Terroristen haben sich für ihr Massaker einen jüdischen Feiertag ausgesucht, Jonathan und Sarah feiern das Ende von Sukkot, die Handys sind aus. Als Jonathan seines wieder einschaltet, steht er gerade im Badezimmer. Er sieht etliche verpasste Anrufe. Die automatisierten Calls der israelischen Armee kommen im Stundentakt. Rund 360.000 Reservisten mobilisiert das Land nach dem Überfall. Jonathan ist einer davon.
Sie erinnere sich, wie ihr Mann ins Zimmer gestolpert sei, aufgewühlt, erzählt Sarah. »Es ist Krieg in Israel«, habe er gestammelt. Und sie dachte, na ja, ein paar Raketen aus Gaza, das gab es ja schon oft. Doch dann sieht auch Sarah die Todeszahlen. Erst heißt es Hunderte. Dann mehr als 1000.
»Ich hatte sofort den Jom-Kippur-Krieg im Kopf, der begann ja fast zur gleichen Zeit«, erzählt Jonathan. Er selbst kennt ihn nur aus den Geschichten seiner Eltern. Klar – Raketen, Luftalarm, Anschläge –, damit ist Jonathan groß geworden. Aber dass Kämpfer in israelisches Gebiet vordringen, das gab es seit 1973 nicht mehr. Jonathan ruft seine Eltern in Israel an. Und zum ersten Mal fragen sie nicht: Wann kommst du uns endlich einmal besuchen? Sondern flehen: Komm nicht! Zwei ihrer Söhne sind schon eingezogen worden, einer wird in Gaza kämpfen. Inzwischen ruft die Armee Jonathan jede halbe Stunde an. Er drückt die Anrufe weg.
»Am Ende habe nicht ich entschieden zu gehen – es wurde für mich entschieden«
»Am Ende habe nicht ich entschieden zu gehen – es wurde für mich entschieden«, so sagt es Jonathan. Er spürt in diesen Tagen viel Druck. Aus Deutschland, wo seine israelischen Freunde schon ihre Rucksäcke packen. Und aus Israel, wo selbst Freunde mit Kleinkindern sich freiwillig zur Armee melden. Und dann sind da diese furchtbaren Bilder. Ein Massaker an Menschen, von denen er manche sogar persönlich kennt. Ein Angriff auf seine Heimat, gegen den man sich verteidigen muss. »Das heißt es eben, Israeli zu sein«, sagt Jonathan. Ernüchtert sagt er es, ohne jedes Pathos. Es ist das Gefühl, vor geladener Knarre mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Und seine Frau alleinlassen zu müssen, gerade jetzt, wo sie ihn am meisten braucht.
Am nächsten Tag beginnt Sarah zu bluten. In der Notaufnahme beschwört die Ärztin sie, sich zu beruhigen. Nicht zu viel über den Krieg nachdenken. Sonst könne sie das Kind verlieren. »Ich kann mich aber nicht einfach abgrenzen«, sagt Sarah. Sie bekommt Medikamente. Das Kind überlebt.
Jonathan und Sarah sprechen alles für den Ernstfall durch: Organspende, Beerdigung, letzter Wille. Sie kaufen über Kontakte militärische Ausrüstung. Sarah hat das Geld im Freundeskreis gesammelt. Sie weiß, dass es auch in Jonathans Einheit an allem mangelt. In der Nacht vor dem Flug fährt Jonathan nach Brandenburg und holt das Equipment bei einem Verkäufer ab. Dann geht es schnell, in der Morgendämmerung umarmt Sarah ihren Mann ein letztes Mal vor dem Sicherheitscheck.
Ein Paar im Überlebensmodus
Sie sind jetzt ein Paar im Überlebensmodus. Alles wirkt existenziell. Jonathan trägt ein Gewehr, Sarah ein Kind. Jonathan muss sein Leben schützen, Sarah das von einem kleinen Wesen, gerade so groß wie eine Linse. Berlin fühlt sich für Sarah jetzt völlig fern an. Leute lachen in der U-Bahn, »und für mich brach gerade die Welt auseinander.« Was hilft, ist die jüdische Gemeinschaft. »Ich erhielt so viele Einladungen zum Schabbat wie noch nie«, lacht Sarah. Viel Kraft hat sie dafür nicht.
Sarah ist ständig müde, ihr wird schnell übel. Die Renovierung und den Umzug in die neue Wohnung schafft sie nur, weil alle mit anpacken: ihr Vater, ein Rabbiner, sraelische Familien, die hier geblieben sind. Während alles einstürzt, hält dieses Netz, vielleicht so fest wie nie.
Auch Jonathan spürt die nun besonders enge jüdische Gemeinschaft. Nach seiner Ankunft in Israel fährt er zu den Eltern eines alten Schulfreundes, sie sind zusammen aufgewachsen. Er tanzte am 7. Oktober auf einer Party unweit von Gaza. Jetzt ist er tot. Die Eltern des Freundes erkennen Jonathan erst nicht wieder. Dann fallen sie ihm in die Arme. »Ich saß danach 15, 20 Minuten heulend im Auto und konnte nicht losfahren«, erinnert sich Jonathan.
Dann packt er seine Ausrüstung, Schnürstiefel, olivfarbene Hose, kugelsichere Weste. Jonathan hat Glück, wenn man so will: Er muss nicht nach Gaza. Er soll in den Norden des Westjordanlandes, dort, wo die Hamas und der Islamische Dschihad seit Monaten in das Machtvakuum der Palästinensischen Autonomiebehörde vordringen. Die ersten Tage hat Jonathan kein eigenes Bett. Aber er hat Internet und kann Sarah schreiben. Das ist das Wichtigste.
Nach zwei Wochen geht Sarah wieder arbeiten. Ihre Kollegen wissen, dass sie jüdisch ist, sie bedeckt ihr Haar, bringt sich immer eigenes koscheres Essen mit. Manche sagen: Es tut mir ehrlich leid, was du durchmachst. Andere sagen: Aber in Gaza leiden sie mehr. Einer schweigt, als er erfährt, dass ihr Mann nun als israelischer Soldat kämpft. »Kein Sorry, gar nichts«, sagt Sarah. Sie hätten sich zuvor gut verstanden, waren auf der Arbeit bisher wie Freunde.
Ein israelischer Soldat: die Spitze des Feindbildes
Seit dem 7. Oktober fühlen sich Juden in Deutschland zunehmend bedroht. Aber ein israelischer Soldat, das ist wohl die Spitze des Feindbildes. Es ist der Grund, warum Sarah und Jonathan hier nicht mit ihren echten Namen stehen, man ihre Gesichter auf dem Foto nicht erkennt. Und warum Sarah nicht mehr jedem erzählt, wo ihr Mann gerade ist.
Oft steht Jonathan an der nun geschlossenen Grenze zu Israel, er starrt auf einen Kreisverkehr im Westjordanland, über den nur noch ab und zu palästinensische Wagen fahren. Nach jedem Freitagsgebet versammelt sich hier eine wütende Menge, oft fliegen Steine Richtung Zaun. Vor ein paar Tagen hielt im Kreisverkehr ein Auto, Männer sprangen heraus und schossen auf die israelischen Wachposten.
Doch auch, als einmal palästinensische Arbeiter in Warnwesten an den geschlossenen Grenzübergang kommen, halten die Soldaten ihre Gewehre fest umklammert. »Man verdächtigt plötzlich alle«, sagt Jonathan. »Aber auch sie haben solche Angst vor uns.« Er spricht leise, verschluckt die Enden seiner kurzen Sätze. Es sind keine Heldenberichte. Er weiß, dass die Situation für viele Palästinenser schrecklich ist. Er weiß auch, dass die terroristischen Gruppen, die in den Dörfern und Städten vor seinem Grenzposten leben, im Internet damit prahlen, den 7. Oktober bald zu wiederholen. Alle paar Tage muss Jonathan einen von ihnen verhaften. Mission heißt das, im Militärsprech.
Vor Kurzem kam Jonathan auf Heimaturlaub nach Berlin – zum ersten großen Ultraschall.
Nach einer dieser Missionen taucht ein Video von Jonathan im örtlichen arabischen Telegram-Channel auf: Offenbar hat ihn jemand bei der Begehung eines palästinensischen Dorfes gefilmt. Aus einem Haus heraus, Jonathan hat es gar nicht bemerkt. »Da habe ich verstanden: Es hätte auch ein Typ mit einer Waffe sein können«, sagt Jonathan.
»Die Tage, wenn er auf Mission ist, sind besonders schwer«, sagt Sarah. Gibt es etwas, das sie tröstet? Sarah überlegt. »Es klingt schrecklich, aber ich habe manchmal gedacht: Wenn er stirbt, habe ich immer noch ein Teil von ihm bei mir.«
Als Sarah diese Worte vier Wochen später auf dem Sofa in der neuen Wohnung in Berlin wiederholt, hört Jonathan ihr sichtlich ergriffen zu. »Das ist das erste Mal, dass du das so sagst«, flüstert er. Dann macht Sarah einen Witz: »Ich hätte dem Baby dann natürlich auch deinen Namen gegeben – Jonathan Junior.« Sie lachen. So funktionieren sie zusammen: Wenn es zu tragisch wird, muss einer einen Witz reißen. Das hat ihnen auch geholfen, die vergangenen Wochen zu überstehen.
Einen guten Monat ist es nun her, dass Jonathan in den Flieger nach Israel steigen musste. Jetzt darf er Sarah kurz wiedersehen. Er hat die Woche präzise ausgesucht. Es ist die zehnte Schwangerschaftswoche, die mit dem ersten großen Ultraschall. Die Ärztin verteilt ein kaltes Gel auf Sarahs Bauch, dann gleitet der Schallkopf darüber. Zum ersten Mal hört Jonathan das Herz seines Kindes pochen. Fünf Tage später muss er zurück nach Israel.