Um 5.30 Uhr verlassen wir Tel Aviv in Richtung Gazastreifen. Es ist noch dunkel, am Himmel hängen schwere Wolken. Trotz der Kälte lassen wir die Fenster des Autos offen, um auch sicher die Sirenen zu hören, falls es Raketenalarm gibt.
»Das Land hat sich verändert«, hatten unsere Töchter gesagt, als sie uns ein paar Tage zuvor am Flughafen empfingen. Uns war nicht klar, ob wir in ihren Stimmen eher Trauer oder Stolz hörten. Die drei leben seit einigen Jahren in Israel, und wir waren aus Bayern gekommen, um ihnen beizustehen. Doch schon bald hatten wir erkannt, dass unsere Töchter das nicht benötigen. Es gibt andere Menschen in Israel, die Hilfe suchen. Israel braucht jetzt Freiwillige, weil viele Arbeitskräfte fehlen.
Hunderttausende im Reservedienst
Hunderttausende Frauen und Männer sind im Reservedienst. Zigtausende Arbeiter aus Thailand und den Philippinen, auch sie wurden Opfer der Hamas, sind nach dem Angriff in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Und Tausende Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen dürfen seit dem 7. Oktober aus Angst vor Anschlägen nicht mehr ins Land. Erstaunlich, dass die meisten Dinge in Israel überhaupt noch funktionieren. Geld- und Sachspenden sind immer willkommen. Aber in manchen Bereichen werden einfach Hände benötigt. Viele Hände.
Die Avocados bleiben ohne Etikett. Das könnte den Verkauf behindern.
Online suchen wir eine passende Volontär-Arbeit nach Parametern wie Art, Ort und Schwierigkeitsgrad. Unsere Wahl fällt auf den Süden, weil dort der Überfall stattgefunden hat, und auf die Landwirtschaft, weil da die meisten Arbeiter fehlen. Die Anmeldung erfolgt immer einen Tag im Voraus und ist erstaunlich gut organisiert. Wir werden sogar unfallversichert.
Als Bestätigung erhalten wir die Nachricht: »Bitte kommt mit festen Schuhen, Hut, Wasser und Sandwiches, denn die Geschäfte in der Nähe sind geschlossen.« Und so fahren wir in aller Frühe nach Beʼeri, einem Kibbuz, in dem die Hamas am 7. Oktober besonders grausam gewütet hat. Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung wurden ermordet oder entführt.
Poster mit Fotos der entführten Geiseln
Entlang des Weges sehen wir Plakate mit den Worten »Wir werden siegen«, »Ein Volk« oder »Bringt sie zurück«. An jedem Zaun, an jeder Laterne, von jeder Brücke hängen Poster mit Fotos der entführten Geiseln. Und überall wehen Israelfahnen, als würde das Land gerade seine Unabhängigkeit feiern. Je mehr wir uns dem Gazastreifen nähern, desto kleiner werden die Straßen, und desto mehr Militär sehen wir.
In Netiwot steigen wir in einen Bus um, der uns und andere Freiwillige zur Plantage bringt. Wir sind etwa 40 Personen im Alter von 14 bis 87 Jahren. Männer und Frauen, Religiöse und Nichtreligiöse, Studenten und Angestellte. Einige haben wegen des Krieges keine Arbeit, andere kommen mit der ganzen Firma. Touristen wie uns treffen wir nur einen: Laurie aus London ist für zwei Wochen hier. Im normalen Leben ist er Finanzexperte.
Wir sollen Sweeties pflücken, eine Kreuzung aus süßer Pomelo und bitterer Grapefruit. Die großen, grünen Kugeln waren für den Export nach Japan bestimmt, aber nach dem Überfall durfte man drei Wochen lang nicht auf die Felder. Jetzt sind die Früchte so reif, dass sie nur noch zu Saft verarbeitet werden können. Die Äste haben Dornen, das Laub ist dicht, die Leitern sind schwer. Die Arbeit strengt an, gerade deswegen haben wir Spaß. Manche Sweeties erreichen wir nur, indem wir auf Äste klettern. Schon bald sind unsere Unterarme ordentlich zerkratzt. Es ist wie früher auf einem Machane. Wir lernen andere Freiwillige kennen, plaudern, lachen und essen ausgiebig Sweeties. Später ernten wir Tomaten.
Schüsse und Explosionen
Die ganze Zeit über hören wir Schüsse und Explosionen, der Gazastreifen ist nur drei Kilometer entfernt. Trotzdem fühlen wir uns sicher. Plötzlich zwei laute Detonationen, gefolgt von Druckwellen. Wir werfen uns auf den Boden und halten die Arme über unsere Köpfe. So schützt man sich bei einem Raketenangriff, wenn kein Bunker in der Nähe ist. Es gab aber gar keine Sirene, und die anderen Freiwilligen machen normal weiter.
Nach einem Schreckmoment wird uns klar, dass wir israelische Artillerie gehört haben, die über uns hinweg in den Gazastreifen schießt. Sehen können wir sie nicht, doch am entfernten Ende der Plantage sind die Geschütze so nahe, dass die Treibladungen zu riechen sind. Als wir wieder aufstehen, finden wir ein Flugblatt. Es wurde vor ein paar Wochen abgeworfen, damit sich die Bevölkerung im Gazastreifen vor dem israelischen Angriff in Sicherheit bringt. Der Wind hat es herübergetragen.
Ein paar Tage später sind wir wieder im Kibbuz Beʼeri. Die Artillerie kann uns nicht mehr erschrecken. Diesmal sollen wir Avocados pflücken. »Wir ernten nur Hass«, erklärt Jarden, der Leiter der Gruppe, und meint damit die Avocadosorte mit der schrumpeligen Schale. »Was wir heute sammeln, kommt demnächst in Europa auf den Tisch. Wir machen aber keine israelischen Etiketten darauf, um den Verkauf nicht zu behindern.« Auf den ersten Blick sehen Avocado-Bäume aus, als trügen sie keine Früchte. Stellt man sich aber neben den Stamm und blickt nach außen, entdeckt man überall Avocados. An manchen Bäumen hängen bis zu 100 Kilo Früchte.
Die Ereignisse des 7. Oktober
Nachdem wir drei Stunden gepflückt haben, ruft Jarden zur Mittagspause. Während die Freiwilligen ihre Sandwiches essen, berichtet er von den Ereignissen des 7. Oktober. Er selbst war an jenem Tag nicht im Kibbuz, sonst würde er wahrscheinlich nicht mehr leben. Sein älterer Bruder, der in der Kibbuz-Druckerei als Buchhalter gearbeitet hat, kämpfte mit einigen Freunden so lange gegen die Terroristen, bis ihnen die Munition ausging. Sie wurden ermordet, kurz bevor das israelische Militär den Kibbuz befreite.
Viele Arbeiter aus Thailand sind in ihre Heimat zurückgekehrt.
Jarden kämpft mit den Tränen. Die Menschen in Beʼeri haben am 7. Oktober die schrecklichsten Abgründe gesehen, sagt er, doch seither passiert das Gegenteil. Die Solidarität so vieler Menschen sei das Beste, was er je erlebt hat. Abschließend bedankt er sich für unsere Arbeit und dass wir ihm zugehört haben, und er verspricht, dass er und die anderen Überlebenden den Kibbuz wiederaufbauen werden – schöner und größer als zuvor. Nach der Pause fühlt sich die Arbeit anders an. Wir sind ruhiger und konzentrierter als zuvor und pflücken trotz zunehmender Müdigkeit mehr Avocados.
In Deutschland demonstrieren wir für Israel, spenden Geld und leiten WhatsApp-Nachrichten weiter. Unsere Stimmung hängt davon ab, ob irgendjemand irgendwo auf der Welt gut oder schlecht über Israel twittert. Diese Abhängigkeit hinterlässt ein Gefühl der Ohnmacht.
In Israel fühlen wir uns anders. Israelis blicken mehr auf ihre eigenen Fähigkeiten, sie vertrauen auf ihre eigene Stärke. In normalen Zeiten kann dieses Selbstbewusstsein manchmal nerven. Doch aktuell ist es genau das, was wir brauchen. Wir waren gekommen, um zu helfen, und haben dabei selbst Hilfe erfahren. Unseren Freunden in Deutschland empfehlen wir, jetzt nach Israel zu kommen und dieses Gefühl selbst kennenzulernen.
Als wir am frühen Nachmittag nach Tel Aviv zurückfahren, wissen wir, dass wir nicht zum letzten Mal freiwillige Erntehelfer waren.
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