Um 12.03 Uhr schwieg Halle. Im Hof der Jüdischen Gemeinde in der Humboldtstraße waren zahlreiche Menschen zum offiziellen Gedenken zusammengekommen. Sie standen dicht an dicht. Nur das Glockenläuten der Stadtkirchen war kurz nach zwölf am Sonntagmittag vor zwei Wochen zu hören.
An der Gedenkveranstaltung nahmen etliche Gäste teil, darunter Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Gemeinsam mit den Hinterbliebenen der Ermordeten legte er Kränze nieder. In seiner Rede sagte er: »Allen Menschen steht das gleiche Recht auf Achtung und Würde zu.« Weiter betonte er, dass der »Firnis der Zivilisation« sehr dünn sei. »Humanität kann schnell in Inhumanität und Barbarei umschlagen.« Die beschossene Tür, die inzwischen im Hof der Synagoge aufgestellt wurde, sei »ein eindringliches Mahnmal«, betonte der Politiker.
»Humanität kann schnell in Inhumanität und
Ministerpräsident Reiner Haseloff
Barbarei umschlagen.«
Am Gedenktag meldete sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf Twitter zu Wort: »Dieser Jahrestag mahnt uns, nie wegzuschauen.« Weiter hieß es: »Wir gedenken der Opfer und bekräftigen, Rechtsextremismus in jeder Form entschlossen zu bekämpfen.«
lehren Ähnlich äußerte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). In ihrem Tweet schrieb sie: »Nichts kann die Tat ungeschehen machen, aber wir ziehen unsere Lehren. Wir wollen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher und angstfrei leben können, und schützen sie.«
Am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur, versuchte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist, in die voll besetzte Synagoge einzudringen, um dort ein Massaker anzurichten. Dieses wollte der Täter, mithilfe einer Helmkamera, live im Internet übertragen. Weil seine geplante Tat misslang, erschoss er die Passantin Jana L. und später den 20-jähirgen Kevin S. in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss. Zwei weitere Menschen wurden verletzt.
Im Dezember 2020 hatte das Oberlandesgericht Naumburg den Täter unter anderem wegen zweier Morde und 68 Mordversuchen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Erinnerung Für Max Privorozki, der das Attentat als Gemeindevorsitzender miterlebt hatte, stand auch am dritten Jahrestag das Erinnern an die Getöteten Jana L. und Kevin S. im Vordergrund. »Denn die offenen Wunden werden irgendwann und irgendwie geheilt, Jana und Kevin dagegen kehren niemals zurück«, sagte Privorozki der Jüdischen Allgemeinen.
Neben der Jüdischen Gemeinde zu Halle riefen die Stadt, Kirchengemeinden und Aktionsgruppen zu verschiedenen Gedenkveranstaltungen, Mahnwachen und Kundgebungen auf. Auch beim früheren Kiez-Döner, wo der Täter Kevin S. erschossen hatte, kamen Menschen zum Gedenken zusammen.
Dass parallel zum Gedenktag der Mitteldeutsche Marathon in Halle stattfand, hatte im Vorfeld für Aufregung gesorgt. In den Tagen vor dem Jahrestag erklärte Max Privorozki gegenüber unserer Zeitung, dass er sich dadurch nicht gestört fühle. Für ihn müsse das Leben weitergehen, auch an Gedenktagen. Zudem wolle er nicht, dass »jedes Jahr ein Grund für Kritik und Unzufriedenheit gesucht« werde.
Resilience In Berlin erinnerte die jüdische Organisation Hillel mit dem »Festival of Resilience« an den Anschlag. Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen Museums, sagte in ihrem einleitenden Grußwort, bei dem Festival gehe es darum, »dem Antisemitismus mit einem jüdischen Narrativ« zu begegnen und denjenigen eine Stimme zu geben, »die rechtsextreme Gewalt am eigenen Körper erlebt haben«. Resilienz bedeute »Widerstandskraft, Zähigkeit, aber auch Flexibilität«, so Berg. Mit Blick auf Krieg und Pandemie bräuchten wir »Resilience – Widerstandskraft – heute mehr denn je«.
Die Mitinitiatorin des Festivals, Rabbinerin Rebecca Blady, die am 9. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle anwesend war, wies in ihrer Rede auf den mutmaßlichen Synagogen-Angriff hin, der sich jüngst in Hannover ereignete. »Dies ist das vierte Jahr in Folge, in dem Terroristen Jom Kippur und Sukkot in jüdischen Gemeinden in Deutschland gestört haben: Halle, Hamburg, Hagen und jetzt Hannover.«
In Berlin erinnerte die jüdische Organisation Hillel mit dem »Festival of Resilience« an den Anschlag.
Im Verlauf des Abends sprachen weitere Überlebende des Halle-Anschlags. Mitorganisatorin Anastassia Pletoukhina nannte das »Festival of Resilience« eine Möglichkeit, »die eigene Erfahrung und den eigenen Schmerz zu teilen«. Ismet Tekin, in dessen »Kiez Döner« der 20-jährige Kevin S. erschossen wurde, sagte mit Blick auf die Verhinderung rechtsextremer Gewalt: »Wir haben einen langen Weg vor uns, aber gemeinsam werden wir das schaffen«, und die jüdische Schriftstellerin Page H. forderte: »Wir müssen uns mit dem Aufbau einer besseren Gesellschaft befassen.« Sie lade »alle ein, mitzumachen«.
Stimme Noch bis vergangenen Samstag wurde im Rahmen des Festivals ein umfangreiches Programm angeboten. Ein Höhepunkt war die Sukkot-Party in der selbst gebauten Sukka, die ganz im Zeichen der Solidarität mit der Ukraine stand: Ukrainische Gäste waren anwesend, es gab ukrainisches Essen und ein ukrainisch-jüdisches Pub-Quiz.
»Wir haben in unserem Festival verschiedene Formen von Resilienz integriert«, sagt Rabbiner Jeremy Borovitz, Überlebender von Halle und Mitinitiator des Festivals, mit Blick auf das Leid, das viele Ukrainer zurzeit ertragen müssen. Für den Rabbiner ist die dritte Ausgabe des Festivals ein voller Erfolg: »Es war unser bestes Jahr bisher.« Man sei dem Anspruch, »Überlebenden von rechtsextremer Gewalt eine Stimme zu geben«, gerecht geworden.