Zwei Spieler vor einem Brett mit 32 Figuren, 16 weiße, 16 schwarze auf 64 Feldern. Es ist das königliche Spiel, das Strategie und Planung erfordert: Schach. Die »Landsberger Lager Cajtung« schrieb 1946 stolz: »Die jidiszn Szachistn sejnen di beste Szpiler in der Welt.« Sie berief sich auf Erfahrung. Schon 1894 schrieb der russische Schriftsteller und Schachspieler Andreas Ascharin in seinen Schachhumoresken: »Wo sich ein Schachklub auftut, da sind die Söhne Israels gewiss nicht die Letzten, welche um Einlass bitten. Sie gehören zu den eifrigsten Besuchern, rastlos bestrebt, sich hervorzutun, und der Erfolg fehlt ihnen selten.«
SCHABBAT Die Geschichte des europäischen Judentums ist eng mit der Geschichte des Schachspiels verbunden. Besonders in Osteuropa existierten zahlreiche Schachklubs. Bedeutende Rabbiner liebten das »Königliche Spiel«, sie gestatteten es sogar am Schabbat – mit einer Einschränkung: Es durfte nicht um Geld gespielt werden. Nicht ohne Grund waren auch die beiden ersten offiziellen Schach-Weltmeister Juden. Wilhelm Steinitz stammte aus einer orthodoxen Prager Familie. Er trug den Titel von 1886 bis 1894, sein Nachfolger Emanuel Lasker bis 1921. Er war Sohn eines Kantors aus Brandenburg.
Schach als vergnüglicher und intellektueller Zeitvertreib erfreute sich auch bei den in Deutschland gestrandeten Überlebenden der Schoa großer Beliebtheit. Überall in den Camps für Displaced Persons (DPs) wurden Schachklubs gegründet. Alle jiddischen DP-Zeitungen hatten eine spezielle Rubrik, »Szach-Winkl« genannt, in der Partien zum Nachspielen oder Analysieren abgedruckt waren. Regelmäßig fanden Turniere statt, an denen jeder teilnehmen konnte. Die Besten luden zu Simultanwettbewerben ein.
JÜDISCHER GEIST 1946 fand auf Einladung des »Jidiszer Turn un Sport Farajn Ichud« im DP-Camp Landsberg (Bayern) sogar die erste »Jidi-sze Szach Olimpiade« nach der Schoa statt. Die besten 36 Spieler aus 16 Lagern nahmen an diesem sportlichen Großereignis teil. In seiner Eröffnungsansprache erinnerte der Ehrenvorsitzende des Landsberger Schachklubs, Markowski, daran, dass sich schon unmittelbar nach der Befreiung »Szachisten« zusammengeschlossen hatten. Ein Beweis dafür, dass »der jüdische Geist trotz Konzentrationslager und Ghettos überlebt hat«. Der Abend endete mit einem gut besuchten Konzert des »Reprezentanc Orkester fun der Szeerit Hapleitah«.
Bei reger Anteilnahme der Lagerbewohner, »baj a ful gepaktn Zal«, wie die Landsberger Lager Cajtung schrieb, wurden sechs Gruppen mit sechs Spielern ausgelost. Jeweils die besten drei kamen eine Runde weiter, sodass schließlich neun Spieler das Finale erreichten. Zudem wurde dem Landsberger Schachmeister I. Borzykowski die Ehre zuteil, an der Schlussrunde teilzunehmen. Dieser Durchgang dauerte fünf Tage. Zum Schluss qualifizierten sich die beiden punktbesten Spieler für das mit großer Spannung erwartete Finale, bei dem sich der Vertreter aus dem DP-Hospital St. Ottilien, Ch. Aleksandrow, souverän gegen den »sehr nervösen« Landsberger Meister durchsetzen konnte.
SIEGERPOKAL Schlussendlich überreichte Lagerdirektor Walther Korn den von ihm selbst gespendeten Pokal dem Sieger der Schacholympiade, Ch. Aleksandrow. Auf der silbernen Trophäe waren Schachsymbole sowie die jüdische und die amerikanische Fahne eingraviert.
Der Verlierer I. Borzykowski erhielt als Trostpreis ein handgemachtes Schachspiel. Das konnte er gleich einsetzen. Denn nach dem feierlichen Bankett veranstalteten die zehn Finalspieler noch ein Blitzturnier und bewiesen damit erneut, dass das »Königliche Spiel«, als Spiel der Vernunft, im Judentum eine jahrhundertlange kulturelle Tradition hat.