Daniel Neumann musste einräumen, dass es Ehrengäste gibt, mit denen er nicht gerechnet hatte. Denn nachdem schon Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck in den vergangenen Jahren Gäste der Ratsversammlung des Zentralrats der Juden in Deutschland waren, habe es doch kaum noch eine Steigerungsmöglichkeit gegeben, sagte der Vor- sitzende des Tagungspräsidiums – außer dem amerikanischen Präsidenten oder dem Papst.
Nicht bedacht habe er dabei den höchsten politischen Repräsentanten Europas, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Trotz des kurzfristig anberaumten Sondergipfels zur Türkei ließ es sich der SPD-Politiker nicht nehmen, der Ratsversammlung seinen Besuch abzustatten und zu den Delegierten und Gästen im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum in Frankfurt zu sprechen. Präsidium, Direktorium, Delegierte und Gäste zollten Schulz großen Beifall für seine Ausführungen zu der Sicherung jüdischen Lebens in Deutschland, dem Existenzrechts Israels und der Flüchtlingsfrage als gesamteuropäische Aufgabe.
Handschrift Außer dem vorgezogenen Besuch des Ehrengastes lief die Versammlung unter der Leitung des inzwischen schon eingespielten Präsidiums mit Daniel Neumann aus Frankfurt, Judith Neuwald-Tasbach aus Gelsenkirchen und Alexander Chraga aus Bochum gewohnt souverän ab. Alles wie gehabt? Nein, denn der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, nunmehr ein Jahr im Amt, hinterließ bereits eine andere Handschrift als sein Vorgänger.
Das hatte sich bereits beim traditionellen Abendessen abgezeichnet. Schuster begrüßte die Gäste kurz und launig, drohte eine Rede von eineinhalb Stunden an, die er dann aber doch auf den Sonntag verschob, und wünschte den Teilnehmern im festlich weiß dekorierten Saal guten Appetit und einen schönen Abend. Keine langen Ansprachen, keine Unterbrechungen, dafür kurze Videos von der Jewrovision und vom Mitzvah Day, die eher unterhaltendes Beiwerk waren.
Flüchtlinge In den Pausen zwischen den Gängen schlenderten die Delegierten von Tisch zu Tisch und erörterten die Ereignisse der vergangenen Wochen. Gesprächsthema waren auch die Flüchtlingsströme in Deutschland und die aktuelle Frage, ob sie nun durch eine Kontingentregelung oder durch eine Zuzugsbeschränkung – gleich welchen Begriffs – kanalisiert werden sollten.
Der Abend vor der Ratstagung war dem Austausch gewidmet. So sah es auch Beni Bloch. Der Direktor der ZWST begrüßte die Gäste in Frankfurt – stellvertretend für die Hausherren Salomon Korn und Dieter Graumann, die sich wegen Urlaub und wichtiger Familienfeierlichkeiten entschuldigen ließen.
Im Mittelpunkt der Ratsversammlung am Sonntag stand wie in jedem Jahr der Rechenschaftsbericht des Präsidenten. Und wie am Vorabend bereits vorhergesagt, sprach Josef Schuster knapp eineinhalb Stunden.
Wegmarken Seine Rede: eine Anamnese jüdischen Lebens und Befindens in den vergangenen zwölf Monaten. Seine Themen waren Gedenken, Erinnerungen, Feste, Sport, Politik und Kultur in den vergangenen 364 Tagen: 70 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, die Jewrovision in Köln und die European Maccabi Games in Berlin waren einige der jüdischen Wegmarken, die Schuster benannte. Dazu die Attentate von Paris im Januar 2015 auf das Satiremagazin »Charlie Hebdo« und den Supermarkt Hyper Cacher – und der schwarze Freitag von Paris, bei dem am 13. November 130 Menschen Opfer islamistischer Terroristen wurden.
Er hoffe, nicht allzu viel mahnen zu müssen, hatte Schuster zu Beginn seiner Amtszeit gesagt. Sein Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen. Es war kein einfaches Jahr für den neuen Zentralratspräsidenten. Treffen mit den wichtigsten Politikern, bei denen er sich vorstellte, bewiesen das – ebenso wie Treffen mit den Kirchen und muslimischen Verbänden. Und wenn man sich auch mit der evangelischen Kirche über die Bewertung des Antisemitismus in den späten Schriften Luthers einig war, so stieß Schuster doch auf Unverständnis in der Frage der Judenmission.
Zuwanderer-Renten Ungeklärt sei nach wie vor der Rentenstatus vieler jüdischer Zuwanderer, beklagte Schuster. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck, vor wenigen Wochen mit dem Leo-Baeck-Preis des Zentralrats ausgezeichnet, habe durch eine Kleine Anfrage im Bundestag das Thema dankenswerterweise wieder auf die Tagesordnung gehoben.
Zahlreiche andere Unternehmungen liefen gut, hob Schuster hervor, namentlich das Next-Step-Programm, mit dem 30 junge Juden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, sich gemeinsam fortbilden, um schließlich als Multiplikatoren zu wirken. Schuster nannte die Seminare der Bildungsabteilung im Zentralrat, das Kulturprogramm, den Mitzvah Day und vieles mehr.
Jewrovision Besonders ans Herz gegangen sei ihm aber die riesige Schabbatfeier im Zusammenhang mit der Jewrovision in Köln, bekannte der Zentralratspräsident: »Wenn wir 750 bis 800 Jugendliche im Gottesdienst sehen, wie sie mitmachen und feiern, dann wissen wir, warum wir unsere Arbeit machen.« Eine Anerkennung, die sich auch an die beiden Rabbinerkonferenzen richtete.
Diese hatten sich in ihren Grußworten zuvor schon umgekehrt beim Zentralrat bedankt: Rabbiner Jonah Sievers in Vertretung für den erkrankten Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK), Henry G. Brandt, und Zsolt Balla für die Orthodoxe Rabbinerkonferenz (ORD). Beide lobten ausdrücklich die Unterstützung des Zentralrats für ihre Arbeit und nahmen Bezug auf die gerade gelesene Paraschat Wajischlach, bei der es, wie Rabbiner Balla erklärte, auch um Verschönerung ging. In diesem Sinne dankte er für die »Verschönerung der Gemeinden«.
Haushaltsplanung Weitgehend unproblematisch verlief die Haushaltsplanung für das kommende Jahr, die ein Gesamtvolumen von knapp 14 Millionen Euro vorsieht. Abgesehen von kleineren Scharmützeln über die Formulierung, ob Haushaltsüberschreitungen in jedem einzelnen Posten von Direktorium und Präsidium abgesegnet werden müssen – was im kommenden Jahr juristisch überprüft werden soll –, wurde der Entwurf von den 91 Stimmberechtigten einstimmig angenommen.
Durch das Ausscheiden von Benzion Wieber und Marian Offman und den Ablauf der Amtsperiode wurde die Neuwahl der Finanzprüfungskommission notwendig. Da sich sechs Kandidaten für fünf Posten gemeldet hatten, musste in geheimer Wahl abgestimmt werden. Gewählt wurden Jacques Abramowicz aus Düsseldorf, Maurice Brondski aus München, Andrei Mares aus Frankfurt, Alexander Chraga aus Bochum und Esther Haß aus Kassel.
Schusters Jahresrückblick war umfangreich und detailreich. Er gab Einblicke in den immensen Arbeitsumfang eines Präsidenten. Dabei habe er schon viel seinen Vizepräsidenten übertragen können, bedankte sich Schuster bei Abraham Lehrer und Mark Dainow, die ihn bei Gedenkfeiern, aber auch bei der jüngsten Rabbinerordination in Bielefeld vertreten hatten. Die Delegierten quittierten den Bericht mit großem Applaus.
»Revanche« Aber auch die »Revanche«, wie es Abraham Lehrer nannte, erhielt heftigen Beifall, als dieser sich bei Schuster für die »hervorragende Arbeit« bedankte. Das Feedback der Gemeinden zeige, wie herausgehoben die Arbeit Schusters für den Zentralrat in den vergangenen Monaten gewesen sei. Vom Besuch des EU-Parlamentspräsidenten abgesehen, verlief die Ratsversammlung unspektakulär. Doch wie hatte Schuster gesagt: »Wenn man nicht so viel hört, dann läuft die Arbeit gut.« In diesem Sinne war es ein gutes erstes Jahr für den Zentralrat unter der Ägide des neuen Präsidenten.