Seminarräume, Hörsäle und die Mensen sind seit gut einem Jahr geschlossen. Auch die Universitäten haben sich vom Präsenzunterricht verabschiedet – und das bereits seit gut zwei Semestern. Während über die Öffnung von Kitas und Schulen diskutiert wird, müssen die Studierenden auch in diesem Sommersemester zu Hause bleiben. Wie ist das für sie? Die Jüdische Allgemeine hat sich umgehört.
Bett, Bad, Schreibtisch – so beschreibt Rebecca Rogowski ihre Morgenroutine. »Dazu kommt noch, dass fast alles in einem Raum stattfindet«, sagt die Studentin, die Judaistik und Literaturwissenschaften an der Freien Universität (FU) studiert. Die Schritte zum Arbeitsplatz sind so wenige, dass noch nicht einmal der Schrittzähler des Handys sie mitrechnet. Erschwerend kommt hinzu, dass die 24-Jährige in einem hellhörigen Neubau wohnt – mit vielen Familien als Nachbarn. Deren Kinder sind ebenfalls zu Hause, sodass es viele Geräusche gibt, die vom Lernen und Arbeiten ablenken.
Die Grenze zwischen Job und Freizeit wird immer fließender.
Zudem habe sich ihr Tagesrhythmus verschoben, sagt sie. So habe sie etwa festgestellt, dass sie immer später aufsteht. »Vor Corona war ich jeden Tag in der Uni und hatte einen Grund, rechtzeitig die Wohnung zu verlassen«, sagt sie. Doch die ist komplett auf Online umgestellt. »Manchmal denke ich, dass ich nur noch auf den PC starre.« Sie sei schon genervt und frustriert. Eigentlich möchte sie nach dem Bachelor noch ihren Master anhängen – aber wenn der Universitätsbetrieb bis dahin nicht auf Präsenz umgestellt ist, zieht sie in Betracht, erst einmal etwas anderes zu machen und den Master zu verschieben.
FRUST Alles flackert derzeit über den Bildschirm, beruflich wie privat: Zoom-Konferenzen, Seminar-Lektüre, Schreiben von Hausarbeiten – und Treffen mit Freunden per Videochat. Sie spüre keine Grenze mehr zwischen Job und Freizeit. »Ich merke, dass ich träge werde und mich nicht mehr so gut konzentrieren kann.«
Bei den Konferenzen fehlt ihr die Diskussion mit den Kommilitonen, sagt Rebecca. Die Berlinerin hat bemerkt, dass immer weniger Studenten an den Veranstaltungen teilnehmen. »Von 15 bringen sich nur noch drei aktiv ein«, so ihre Beobachtung. Da sie jemand sei, der gerne redet, gefalle ihr das gar nicht. Nun musste sie noch einen italienischen Sprachkurs belegen – auch online. Da habe es ihr gereicht.
»Aber ich habe noch Glück, denn finanziell unterstützt mich mein Vater, ich arbeite als studentische Hilfskraft bei meiner Judaistik-Professorin Tal Ilan zum Thema Gender-Aspekte in der rabbinischen Literatur und habe ein Stipendium von ELES«, sagt sie. Damit komme sie finanziell gut über die Runden. Das für das Studium notwenige Praktikum hatte sie vor Corona schon bei der israelischen Botschaft absolviert.
KAMPFSPORT »Ich bin jemand, der immer beschäftigt ist«, sagt Rebecca von sich. Vor der Pandemie hat sie als Co-Trainerin beim Kampfsport kleinere Kinder angeleitet. Da man dabei keinen Abstand einhalten kann, ist das schon länger gestrichen. Ferner hat sie eine ehrenamtliche Schülerpatenschaft übernommen. »Normalerweise gehe ich zu dem Siebtklässler aus dem Irak nach Hause, unterstütze ihn bei den Deutsch-Hausaufgaben und esse gemeinsam mit ihm.« Auch gestrichen. Nun haben sie sich geeinigt, dass er sie bei Schwierigkeiten anruft. Freunde treffen, ausgehen, in Cafés sitzen – das alles fehlt ihr.
Ihre Rettung: die Mitbewohnerin. Mittags und abends treffen sich die beiden zum Essen in der Küche und verbannen vorübergehend ihre Handys. Wenn alles vorbei ist, möchte Rebecca unbedingt wieder reisen. Ganz oben auf der Liste steht ein Ticket nach Israel, wo ein Teil ihrer Familie lebt. Vor einiger Zeit ist eine Großtante dort gestorben, und sie hat noch nicht das Grab besuchen können.
LEHRVIDEOS Mark Hamburg wünscht sich, dass in naher Zukunft zumindest Hybrid-Unterricht möglich wird. Ebenso hofft er auf ein Praktikum. Und ein Stück Normalität im Alltag wäre auch schön – »wenn die Zahlen der Neuinfektionen das erlauben«, so der 18-jährige Wirtschaftsingenieur-Student. Denn alleine in seinem Zimmer auf den PC zu schauen und den 90-minütigen Lehrvideos zuzuhören, sei sehr ermüdend im Vergleich zu Vorlesungen, Tutorien und Seminaren, in denen Kommunikation und ein Austausch zwischen Studenten und Dozierenden stattfindet – vor allem, wenn man mehrere Vorlesungs- und Tutorienvideos in dieser Länge vor sich hat.
Die paar Monate vor dem Corona-Ausbruch waren zu kurz, um neue Kontakte zu festigen und die Kommilitonen richtig kennenzulernen.
Mark lernt bis zum Nachmittag. Das Studium sei schon sehr theoretisch, da würde er sich über etwas Praxisbezogenes wie ein Praktikum freuen. Die Ablenkungsgefahr sei bei ihm hoch, denn in seinen eigenen vier Wänden gebe es »viel Interessantes«. Mittlerweile stehe auch er morgens etwas später auf, der »Rhythmus verschiebt sich«.
Glücklicherweise habe er dank des ELES-Stipendiums und dadurch, dass er bei seiner Mutter wohnt, keine finanziellen Sorgen. Ein Hobby hat er, dem er sogar nachgehen kann: Der 18-Jährige ist Tänzer. Da er in Lateinamerikanischen Tänzen zu den Profis zählt, darf er trainieren – allerdings mit strengem Hygienekonzept. Wettkämpfe wird es so bald auch nicht geben.
Immerhin hat er ein erstes Semester erlebt, in dem die TU noch einen normalen Betrieb hatte. Aber die paar Monate von Oktober bis Februar vor dem Corona-Ausbruch waren zu kurz, um neue Kontakte zu festigen und die Kommilitonen richtig kennenzulernen.
EINTÖNIGKEIT »Ich bin froh, dass ich vor zweieinhalb Jahren nach Berlin gekommen bin und diese Stadt auch normal erlebt habe«, sagt Alissa Frenkel, die aus dem Elsass stammt. Vorher hat sie in Freiburg ihren Abschluss in Geschichte und Politologie gemacht und verbrachte anschließend Zeit in Tel Aviv. Nun ist die 24-Jährige an der Hertie School im Fach International Affairs eingeschrieben und strebt ihren Master an. »Ich bin extrem dankbar, dass ich nicht allein leben muss, sondern mit meinem Verlobten zusammenwohne.«
Seit fast einem Jahr ist ihr Alltag nun eintönig – denn auch ihre Hochschule hat den Betrieb auf Online umgestellt. Jeder Tag sei gleich, manchmal wisse sie gar nicht mehr, was für ein Wochentag sei, sagt sie lachend am Telefon. Man »rollt aus dem Bett und geht an den Computer«. Sie habe viel zu tun und müsse deshalb auch zeitig aufstehen. Finanziell habe sie keine Sorgen: Außer ihrem ELES-Stipendium hat sie einen Job bei SAP, den sie ebenfalls im Homeoffice erledigen kann.
Man rollt aus dem Bett und geht an den Computer.
Viele Professoren würden nun mehr Aufgaben stellen. Das letzte Semester sei für sie moralisch und psychologisch schwer gewesen. Der Computer blieb und bleibt den ganzen Tag an. Glücklicherweise wurde ihr ein Job bei einer Kommunikations- und Politikberatung als Praktikum anerkannt. »Denn nun hätte ich wohl keine Chance mehr, einen Platz zu bekommen.« Vor der Pandemie hatte sie an ein Praktikum in den USA oder bei der Weltbank gedacht.
BEWEGUNG Das geht nun nicht mehr. Etliche Kommilitonen müssen es nach ihrem Master noch nachholen. Was ihr mit am meisten fehlt, seien die »nebensächlichen Unterhaltungen«. Dass man sich im Flur trifft und sich einfach mal austauscht. Das sei ihr früher gar nicht aufgefallen, dass so etwas so wichtig ist. Und die körperliche Bewegung fehlt ihr, denn das Sitzen auf einem Schreibtischstuhl würde überhandnehmen. Nun hat sie sich vorgenommen, jeden Tag Kraft- und Dehnübungen, Online-Yoga und Sport an der frischen Luft zu machen.
Beim ersten Lockdown seien sie und ihre Freunde noch motivierter gewesen und hätten sich samstagabends auf Zoom zum Austauschen und Spielen getroffen, doch im Herbst war das Interesse daran weg und die »Moral schlechter«. Das hat auch Lars Umanski von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) festgestellt. »Wer tagsüber die ganze Zeit vor dem Computer sitzt, möchte abends etwas anderes machen.« Man merke, wie wichtig das Präsenzangebot ist, denn es sei nun schwierig, die Kontakte aufrechtzuhalten.
Alissa hält sich derweil mit Telefonaten mit ihren drei Schwestern und ihren Großeltern bei Laune. Wenn die Pandemie vorbei ist, möchte sie reisen. »Ich träume jede Woche davon.«