Mathe, Deutsch, Englisch, Schoa. Schoa? Verfolgung, Grausamkeit und sechs Millionen Tote als Thema im Schulunterricht? »Schoa-Erziehung ist nicht das, was man gleich denkt«, betont Noga Hartmann, die Direktorin der I. E. Lichtigfeld Schule in Frankfurt. »Es gibt viele verschiedene Arten und Themen, um sich diesem Teil jüdischer Geschichte zu nähern«, weiß sie aus eigener Erfahrung, unter anderem als Leiterin der Heinz-Galinski-Schule in Berlin – einer Grundschule.
»Bei den ganz Kleinen nähern wir uns dem Thema Schoa etwa am Beispiel des sozialen Miteinanders und der Ausgrenzung.« Damit, so Hartmann, »behandeln wir einen wichtigen Aspekt der Schoa, ohne über sie konkret gesprochen zu haben.« So lernten die Schüler nicht nur zu differenzieren und kritisch zu denken, sondern auch, »dass wir zwar nicht alle gleich, aber doch alle gleichwertig sind«.
Traumatisierung Keinesfalls aber dürfe der Unterricht zum Themenfeld Holocaust traumatisieren: »Die Lehrer müssen sehr sensibel agieren und wissen, welcher Klasse sie was zumuten können. Das kann auch innerhalb einer Altersstufe sehr unterschiedlich sein.« Lehrerfortbildungen seien in diesem Zusammenhang sehr wichtig, betont die Direktorin. Sie selbst sei von einer Schulung in der Gedenkstätte Yad Vashem mit vielen Anregungen und Ideen zurückgekommen.
So sei ihr zum Beispiel klar geworden, wie wichtig es ist, dass jeder Schüler etwas Positives aus der Beschäftigung mit dem Themenfeld Schoa lernen könne. »So schrecklich alles war, so haben doch auch viele Menschen überlebt. Und dass sie überlebt haben, ist meist jemandem zu verdanken, der ihnen irgendwann irgendwie geholfen hat.« Man müsse den Kindern bei jedem Gespräch über Konflikte und Katastrophen wie den Holocaust auch einen positiven Ausblick geben – sie sollten nicht hilflos aus solchen Diskussionen herausgehen.
Als besonders gutes Lehrwerk wertet Hartmann in diesem Zusammenhang Circles: Dialogue with the past. In diesem Werk werde anhand der jüdischen Feiertage beispielhaft gezeigt, wie sich jüdisches Leben in Europa verändert hat. »Ich habe das Buch einmal im Hebräischunterricht eingesetzt, als wir über Chanukka gesprochen haben«, erzählt die 42-Jährige. Sie habe den Kindern ein Bild von einer Chanukka-Feier im Jahr 1941 gezeigt. Die Schüler hätten schon von sich aus bemerkt, dass keine Sufganiot zu sehen waren, weil man vor 70 Jahren Chanukka anders gefeiert habe. »So habe ich die Kinder behutsam an das Thema Schoa herangeführt, ohne sie zu traumatisieren«, sagt die Pädagogin. Diese Publikation würde sie gern auch im Frankfurter Schulunterricht einführen.
Bücher Fiktive Geschichten wie das Jugendbuch Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter zu lesen, hält Hartmann hingegen »an einer jüdischen Schule für wenig sinnvoll«. Angebrachter sei Hannas Koffer: Ein Koffer mit der Aufschrift »Hanna Brady, Waisenkind« hatte das Publikum des Holocaustmuseums in Tokio so in den Bann gezogen, dass die Kuratorin des Museums, Fumiko Ishioka, Hannas Geschichte recherchierte und Karen Levine sie aufschrieb.
Auch bei Gesprächen mit Zeitzeugen setzt die Schulleiterin, die an der israelischen Bar-Ilan-Universität im Bereich Islamwissenschaft promoviert wurde, auf einen reflektierten pädagogischen Ansatz. »In jedem Fall muss ich mich zuvor mit dem Zeitzeugen unterhalten können«, sagt sie kategorisch. Schließlich pflege jeder Zeitzeuge seine eigene Rhetorik.
In dem Zusammenhang erinnert sie sich noch intensiv an ihre eigenen Gefühle, die sie als Schülerin bei einer solchen Begegnung in Israel hatte: »Die Frau hat erzählt und geweint, und ich war so traurig und fühlte mich so machtlos, weil ich ihr ja in keiner Art und Weise helfen konnte.« Positiver habe sie den Bericht einer Zeitzeugin erlebt, als sie bereits Schulleiterin in Berlin war: »Ihr Vater hatte einen Diplomatenpass, deshalb konnte sie im immer leerer werdenden Berlin bleiben. Sie hatte als Journalistin eine Rede von Hitler miterlebt. Was sie erzählt hat, war natürlich auch bedrückend, aber zu verkraften.«
Schoa-Raum Für die Lichtigfeld-Schule planen die Lehrer in diesem Jahr einen »Schoa-Raum« mit Ausstellungsstücken, die Anregungen für Erklärungen, Diskussionen und Gespräche geben sollen. Die achten Klassen werden wie schon in den vergangenen Jahren Biografien ihrer Familien – vor, während und nach der Schoa – zusammentragen und diese am Jom Haschoa in der Westend-Synagoge vortragen.
Den Holocaust aus dem Schulunterricht auszuklammern, ist für Hartmann undenkbar: »Ein ganzes Volk ist davon traumatisiert, und wir sollen das nicht anfassen?« Das gehe im Unterschied zu einer staatlichen Schule an einer jüdischen nicht. Das Thema sei in den Familien ohnehin »unglaublich präsent«, sagt sie. Es sei für die Kinder heute noch immer emotional spürbar, dass Familienmitglieder fehlten. Zu Hause, so hat Hartmann beobachtet, werde entweder sehr viel über das Thema Schoa gesprochen – oder gar nicht.
FAmiliengeschichten Auch die Kinder von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion hätten ganz viele Geschichten, »oft noch viel härtere: die Rote Armee, die Ghettos. Einmal ging es im Grundschulunterricht eigentlich nur um die Vielfalt der Nationen. Da brach es aus einem Jungen heraus: Er erzählte seine Familiengeschichte aus Russland, vom Krieg und von der Massenvernichtung.«
Sie sei selbst einen Moment lang geschockt gewesen und wusste kurze Zeit nicht, wie sie reagieren sollte. Dann habe sie das Thema aber ins Positive geführt – aufs Überleben und den Neuanfang. »Das ist unsere Chance«, betont Noga Hartmann, »den Kindern Stärke mitzugeben.«