Zum wieder erwachten Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden Deutschlands gehört auch der Neu- oder Ausbau repräsentativer Synagogen und Gemeindezentren. Die Jüdische Gemeinde Kiel und Region an der Wikingerstraße 6 reiht sich mit einem großen Synagogen-Neubau und der umfassenden Renovierung des bestehenden Gemeindezentrums in die jüdischen Gemeinden ein, die nach der Zeit des Wiederaufbaus, nach der Gründung neuer Gemeinden durch den Zuzug von Kontingent-Flüchtlingen in den 1990er-Jahren mit einer Synagoge wieder jüdisches Leben in Deutschland weithin sichtbar machen wollen.
»Wir sind eine traditionelle Einheitsgemeinde, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und haben bereits 1998 als Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein mit dem Land Schleswig-Holstein einen Staatsvertrag geschlossen, der uns eine finanzielle Basis sichert«, sagt Viktoria Ladyshenski, Geschäftsführerin der Gemeinde und auch der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein, zu der noch die traditionellen Gemeinden in Lübeck und Flensburg gehören. Die gesamte Mitgliederzahl beträgt mehr ala 1000 Jüdinnen und Juden (Stand 2022/ZWST).
ROTLINKER Die Synagoge der traditionellen Gemeinde soll im Innenhof des jetzigen Gemeindezentrums entstehen, das einmal ein »Volksbad« war und seit 1992 ebenfalls unter Denkmalschutz steht. Das markante Rotklinker-Gebäude im typisch nordischen Backstein-Stil mit hohen Bogenfenstern und kunstvoll blau-weiß gestrichenen Portalen im Kieler Stadtteil Gaaden am Ostufer der Kieler Förde steht heute mitten in einem Arbeiterviertel mit muslimisch geprägter Nachbarschaft.
Die Synagoge will zu einem spirituellen Erlebnis einladen.
»Wir verstehen uns sehr gut mit unseren Nachbarn, tauschen uns aus, pflegen interreligiöse Gespräche und bieten auch soziale Hilfe an«, sagt Viktoria Ladyshenski, die selbst Anfang der 1990er-Jahre aus Kiew nach Kiel kam.
Allerdings ist das Haus der jüdischen Gemeinde mittlerweile marode und muss dringend renoviert werden, was zeitgleich mit dem Synagogen-Neubau geplant ist. Der wiederum ist der erste Synagogen-Neubau in Kiel nach der Schoa.
Jüdisches Leben soll es in Kiel bereits im Mittelalter gegeben haben, was bisher nicht nachgewiesen ist. 1782 wurde das ehemalige Kaffeehaus der Universität an der Kehdenstraße 12 das erste jüdische Bethaus der Ostseestadt, bis die Gemeinde 1869 in die dreistöckige Synagoge an der Haßstraße umzog. 1910 bauten die Kieler Juden eine größere Synagoge an der Humboldtstraße. 1933 hatte die Gemeinde cirka 600 Mitglieder. Die Synagoge wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstört. Nur ein 1989 errichtetes Denkmal erinnert an sie. »Jetzt haben wir wieder ein reges jüdisches Gemeindeleben, sind in der Stadtgesellschaft angekommen und freuen uns auf unsere neue Synagoge«, sagt Igor Wolodarski, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde und promovierter, freiberuflicher Ingenieur, der in den 1990er-Jahren aus Mariupol in der Ukraine nach Kiel kam. »Mit dem Synagogen-Neubau wollen wir Anfang nächsten Jahres beginnen und rechnen damit, dass die neue Synagoge Ende 2024 fertig gebaut ist«, ergänzt Viktoria Ladyshenski. Der gesamte Bau inklusive Sanierung des bestehenden Gebäudes könnte Ende 2025 abgeschlossen sein.
»Wir werden einen Glaubensraum mit einer schlichten und eleganten Ästhetik schaffen«, verspricht Ladyshenski. Die markante Architektur des denkmalgeschützten Gebäudes soll im bewusst modern und schlicht weiß gehaltenen Synagogen-Kubus mit integrierten Davidsternen eine Fortsetzung finden, eine harmonische Einheit bilden und in den lebendigen Stadtteil Gaaden hineinwirken.
Durch Lichtführung und Material will die Synagoge zu spirituellen Erlebnissen einladen, heißt es in der Projektbeschreibung des Kieler Architektenbüros Hochfeldt, das Synagoge und Sanierung gemeinsam mit der Gemeinde plant. Die Synagoge mit Bima und Toraschrank als Mittelpunkt ist zweigeschossig mit Frauen-Empore, gläsernem Fahrstuhl und Speiseaufzug geplant. Für die Beleuchtung sorgen auch zwei kreisförmige Oberlichter. Der Gesamtkomplex umfasst neben der Synagoge mehrere Büros, Beratungs- und Sozialräume und im Obergeschoss eine Küche für Milchiges und vor allem einen Raum für Versammlungen und Feste, für Chor-, Tanz- und Theatertreffen.
ALLTAG »Es ist unser Ziel, ein Zentrum jüdischen Lebens zu schaffen, wir möchten alle Facetten des jüdischen Alltags leben können«, sagt Wolodarski. Insgesamt würden etwa 1000 Menschen von der Gemeinde betreut, darunter auch viele Nichtjuden; momentan vor allem Frauen und Kinder, die nach Russlands Angriffskrieg aus der Ukraine geflüchtet waren. »Wir sind stolz darauf, unsere Gemeinde aus eigener Kraft aufgebaut zu haben«, ergänzt Ladyshenski. Sie verweist auch darauf, dass es jetzt gelte, jüdische Geflüchtete in ihre »eigene Identität zu integrieren«, ihnen jüdische Feiertage, jüdische Ethik nahezubringen.
Dafür sind Ladyshenski und Wolodarski in vielen Gesprächskreisen unterwegs, beispielsweise im Stadtteilbüro und bei der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Schleswig-Holstein. Sie zeigen Kieler Studierenden jüdisches Leben, informieren in Schulklassen mit einem selbst erarbeiteten Handout über das Judentum, haben 2019 im schleswig-holsteinischen Landtag den Runden Tisch initiiert und mitgegründet und sind dort bis heute aktiv. »Für uns besteht nie die Frage, ›ob‹, sondern ›wann‹«, sagt Ladyshenski. Zudem sei die interkulturelle Arbeit sehr wichtig, um dem Antisemitismus energisch Einhalt zu gebieten.
»Wir müssen mit allen Menschen offen über Antisemitismus sprechen, über Antisemiten wie Martin Luther und Richard Wagner, wir müssen eine Diagnose der Krankheit Antisemitismus stellen, damit sie geheilt werden kann«, sagt Igor Wolodarski und verweist auf die nächste Arbeitssitzung des Runden Tisches im Landtag im November, zu der auch Felix Klein, seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, nach Kiel kommen will.
Am Runden Tisch sind alle jüdischen Gemeinden Schleswig-Holsteins beteiligt, auch die Reformgemeinden. Damit jüdisches Leben wieder deutlich und selbstbewusst sichtbar wird – auch und gerade mit neuen Synagogen.