Sergei Tcherniak blickt beunruhigt auf sein Handy. »Schon wieder eine Gaza-Rakete auf Israel«, sagt der Mitarbeiter von Keren Hayesod. Seit zwei Wochen klingelt immer wieder die Red-Alert-App auf seinem Handy. »1000 Raketen in zwei Wochen, manchmal sogar 30 an einem Tag – das ist eine dramatische Ausnahmesituation in Israel«, betont Tcherniak.
Seine Stimme klingt, als würde er dieser Tage mit sehr wenig Schlaf auskommen. Kein Wunder, seit zwei Wochen ist der 40-Jährige praktisch im Dauereinsatz. Facebook, Twitter, E-Mails, ob zu Hause, im Büro oder unterwegs: Sergei Tcherniak ist immer erreichbar, rund um die Uhr. Die Hälfte seiner Zeit verbringt der Germanist und Ökonom im Büro von Keren Hayesod in Charlottenburg.
termine Dort stapeln sich auf seinem Schreibtisch eilig entworfene Flyer, Spendenaufrufe und Konzepte für Solidaritätskampagnen. Die übrige Zeit ist er »draußen« unterwegs, wie er es nennt: auf Pro-Israel-Veranstaltungen, im Gespräch mit potenziellen Spendern und bei Terminen mit diversen Unterstützern.
Allein Hunderte E-Mails an Förderer hat Tcherniak in den vergangenen Tagen verschickt. Jetzt heißt es, geduldig auf Antwort zu warten. Und auf mehr Spenden, denn die werden dringend gebraucht. Mehrmals täglich telefoniert der Keren-Hayesod-Mitarbeiter mit dem Heimatfrontkommando der israelischen Streitkräfte. Die Zusammenarbeit ist eng, die Anfragen nach mehr Unterstützung steigen im Stundentakt.
Vor allem unter den russischsprachigen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu Berlin soll Tcherniak Spenden sammeln. Keine leichte Aufgabe für den Israeli, und das, obwohl er perfekt Russisch spricht und die Gemeinde gut kennt. »Wir haben viel positive Resonanz. Fast alle haben Familie und Freunde in Israel und wollen das Land unterstützen.«
zuversichtlich Dennoch klingeln die Spendentelefone längst nicht so heiß, wie er und seine Hilfsorganisation es sich erhofft hatten, gibt Tcherniak unumwunden zu. Er ist trotzdem zuversichtlich, dass noch mehr Leute spenden werden. »Die Situation, die wir gerade erleben, ist neu. Dass die Raketen nicht nur Sderot, sondern mittlerweile sogar Tel Aviv erreichen, ist für viele Menschen noch unbegreiflich«, sagt Tcherniak. »Die Leute brauchen Zeit, um wirklich zu verstehen, was da gerade passiert.«
Zeit, die die Menschen vor Ort oft nicht haben. Wer bei Raketenalarm keinen Luftschutzkeller in der Nähe hat, ist besonders gefährdet. Deshalb arbeitet Sergei Tcherniak unter Hochdruck daran, Geld für mobile Luftschutzräume aufzutreiben. Spenden fließen außerdem in die Renovierung vorhandener, aber völlig veralteter Luftschutzräume sowie in Ferienprogramme für Kinder aus Südisrael. »Kinder aus der Gefahrenzone herauszubringen, hat für uns oberste Priorität«, sagt der Fundraiser. Auch in dieser angespannten Situation bleibt er ruhig und professionell. Er ist weit weg und doch mittendrin. Nicht nur wegen der App auf seinem Handy.
Es ist nicht die erste Krisensituation in Israel, die Tcherniak von Deutschland aus erlebt. Seit drei Jahren lebt er in Berlin, erst als Mitarbeiter der Jewish Agency, nun bei Keren Hayesod. Schon der Militäreinsatz in Gaza 2012 hatte aus seiner Sicht eines deutlich gemacht: Je größer die Raketenreichweite aus Gaza, umso mehr Gefahr für die israelische Zivilbevölkerung im Kernland. Dennoch, mit Raketenangriffen dieser Dimension hatte selbst damals niemand gerechnet. Auch Tcherniak nicht.
Biografie Geboren wurde er im weißrussischen Minsk, Jahrgang 1974. Als Kind malte er sich oft aus, wie sein Leben wohl im Jahre 2000 aussehen würde. In seiner kindlichen Fantasie stellte er sich fliegende Autos und Wolkenkratzer vor, Palmen und Strand. Im Alter von 21 Jahren wanderte Tcherniak nach Israel aus. Dass Raketen einmal – neben Palmen und Strand – zu seiner neuen Lebensrealität werden würden, hätte der einstige Erstklässler aus Minsk wohl eher als Albtraum abgetan.
Auch wenn er derzeit in Berlin lebt, Jerusalem ist sein Zuhause. Dort leben auch seine Eltern und Freunde. Darüber ist Tcherniak sehr froh in diesen Tagen. »Die Hamas wird Jerusalem nicht ernsthaft attackieren«, hofft er. Skeptisch ist er trotzdem.
Noch gilt die israelische Hauptstadt als relativ sicher. Hilfsprojekte, die Kindern aus dem Süden Israels wenigstens für ein paar Tage unbeschwerte Ferien ermöglichen sollen, finden deshalb oft in Jerusalem statt – viele davon mit Unterstützung von Keren Hayesod. »Sie sollen wenigstens für einen Tag Kraft tanken im Schwimmbad, ein bisschen lachen und Spaß haben, bevor sie zurück nach Hause fahren in ihren Alltag«, sagt Tcherniak.
Kraft Sein Chef Jakob Snir, seit 15 Jahren Gesandter von Keren Hayesod in Berlin, pflichtet seinem russischsprachigen Kollegen bei. »Diese positiven Erlebnisse nehmen die Kinder mit nach Hause. Auch wenn sie nur ein kleiner Lichtblick sind, sie geben ihnen Kraft.« Snir beunruhigt vor allem die immer größere Reichweite der abgefeuerten Raketen. Mehr als 100 Kilometer, bei der Größe des Landes sei das schon flächendeckend.
Für die Arbeit von Keren Hayesod heißt das konkret: Schutzräume im ganzen Land müssen erneuert werden, nicht nur wie bisher im Süden Israels. Eine Mammutaufgabe für die Stiftung. Zumal es in den meisten Kellerräumen an sanitären Anlagen, Wasserleitungen und Betten fehlt. »32.000 Euro kostet es, den Luftschutzraum in einer Schule zu renovieren, 12.000 Euro, einen mobilen Luftschutzbunker zu bauen. Das ist viel Geld. Dafür brauchen wir mehr Spenden«, sagt Snir.
Mindestens ebenso wichtig jedoch sei für Keren Hayesod die Einwanderung nach Israel. Gerade ist Jakob Snir aus der Ukraine zurückgekehrt, wo er 35 Olim Chadaschim, Neueinwanderer nach Israel, verabschiedet hat. »Die Situation in Israel schreckt die Menschen nicht davon ab, dort leben zu wollen. Alle haben sie ein Funkeln in den Augen – aber auch viele Fragezeichen«, beschreibt der Keren-Hayesod-Gesandte die Stimmung unter den ukrainischen Neueinwanderern.
Alija Sie sind 35 von insgesamt 900 Juden weltweit, die allein in der vergangenen Woche nach Israel einwanderten, vor allem aus Frankreich und den USA. »Alija ist die Lebenslinie unserer Arbeit«, unterstreicht Snir. »Allein von der großen Einwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion in den 90er-Jahren hat Israel enorm profitiert – wie man an meinem jungen Kollegen sieht«, sagt Snir und nickt Sergei Tcherniak aufmunternd zu.
Dass es ihm und seinem Team gelingen wird, noch mehr Menschen in Deutschland zu Spenden zu bewegen, Juden und Nichtjuden, daran hat Tcherniak keinen Zweifel. Er bleibt dran. »Jede Minute zählt«, fügt er mit Blick auf sein Handy hinzu. Das Display blinkt grellrot. Eben wurde schon wieder eine Rakete auf Tel Aviv abgefeuert.
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