Die Ventilatoren surren ohne Pause, sodass die Hitze von draußen keine Chance hat, sich auszubreiten, und es für Bücher und Menschen angenehm frisch ist. Ein Student hat sich in dem Lesebereich einen Platz gesucht, seinen Laptop aufgeklappt, um in Ruhe zu arbeiten. Ein paar Tische weiter sitzt eine ältere Dame vor ihrem kleinen Stapel Bücher, nun steht sie auf, nimmt ein paar Zeitungen aus dem Ständer und vertieft sich wieder in die Lektüre.
Es ist noch ruhig an diesem Donnerstagnachmittag in der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße. Unzählige Bücher, die in den vielen Regalen Seite an Seite stehen, warten darauf, herausgenommen und gelesen zu werden. 80.000 Bücher sollen es sein, sagt die Bibliothekarin Maria Iljina. Aber es gibt auch Zeitschriften, audiovisuelle Medien, Mikrofilme und Mikrofiches. Ebenfalls werden Nachschlagewerke, religiöse- und wissenschaftliche Literatur, Unterhaltungs- und Fachliteratur, Kinder- und Jugendbücher, literarische Werke sowie Musik, Lieder und Filme in den Sprachen Deutsch, Englisch, Russisch, Hebräisch und Jiddisch zur Verfügung gestellt.
»Die Berliner haben es verdient, so eine schöne Bibliothek mitsamt Lesebereich zu haben«, meint Maria Iljina mit einem Lächeln. Die Bibliothek ist seit ihrer Eröffnung im Jahr 1902 für alle zugänglich.
»Wenn ich die drei Bücher ausgelesen habe, komme ich wieder.«
Die 69-Jährige sitzt hinter dem kleinen Tresen und bearbeitet Mails. Neben Bitten nach Verlängerungen melden sich auch andere Bibliotheken und fragen nach seltenen Büchern. Manchmal werden sie auch als Objekte für Ausstellungen oder als Informationsquellen und Requisiten für Filme benötigt. »Dann verleihen wir sie.«
Die Frau, die so emsig die Zeitschriften studiert hat, kommt zu ihr und legt drei Bücher von Stephan Hermlin auf den Tresen. »Wenn ich sie alle durchgelesen habe, komme ich wieder«, sagt sie. Sie ist extra aus Potsdam angereist. »Dort habe ich in der Bücherei nicht das gefunden, was ich suche.« Sie beschäftige sich schon lange mit dem Judentum und der Exilliteratur. Irgendwann entdeckte sie die Bibliothek der Jüdischen Gemeinde – und genießt seitdem ihre große Auswahl.
Der Bestand der ersten Bibliothek ging im Krieg verloren.
Bis 1932 umfasste die Bibliothek etwa 100.000 Bände. Ab 1938 sah die NS-Kulturpolitik vor, dass Kultureinrichtungen und Gemeindearchive gesichtet und erfasst wurden, gefolgt von Konfiszierung und Raub als wertvoll erachteter Gegenstände, Bücher und Manuskripte, die anschließend häufig gegen Devisen ins Ausland verkauft wurden. Der Bestand der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde ging so – mit wenigen Ausnahmen – im Krieg verloren.
1959 wurde mit dem Neuaufbau der Bibliothek im Gemeindehaus begonnen. Erworben wurden Veröffentlichungen zur jüdischen Religion, zu Geschichte und Kultur. Durch die Vereinigung der Jüdischen Gemeinden Ost und West nach dem Mauerfall kam die 1974 gegründete Bibliothek in der Oranienburger Straße 28/29 dazu und wurde der Bibliothek im Gemeindehaus angeschlossen. In der Tradition aus der Vorkriegszeit ist sie eine Einrichtung zur Erforschung, Pflege und Erhaltung jüdischen Erbes und jüdischer Kultur. Seit Beginn des 21. Jahrhundert macht es sich die Bibliothek zum besonderen Anliegen, Provenienzforschung und Restitution voranzubringen. Hier soll es bereits Rückgaben aus privater Hand und aus Bibliotheken wie der Zentral- und Landesbibliothek Berlin geben, so Maria Iljina.
Die Bücher können bei der Suche nach Angehörigen weiterhelfen
»Die Bibliothek ist und bleibt ein Ort für die kollektive Erinnerung an die Schoa und jüdische Religion, Israel und Zionismus.« Jüdische Sozial- und Kulturgeschichte, eine umfangreiche Sammlung von deutsch-jüdischen Periodika sollen das Angebot ergänzen.
Ein Mann um die 30 stürmt aufgeregt in die stillen Räume. »Sie hatten mich gestern angerufen, dass ich etwas über meinen Urgroßvater erfahren könnte«, sagt er. Zoltan Ozoray Schenker nahm mehrmals an den Olympischen Spielen teil und wurde unter jüdischen Sportlern aufgelistet. Bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm gewann er mit der ungarischen Mannschaft den Titel im Säbelfechten. Bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris trat er sowohl mit dem Florett als auch mit dem Säbel an. Mit der Florettmannschaft wurde er Dritter.
Sein Urenkel möchte mehr wissen. Auch, ob er selbst jüdisch sein könnte. »Ich hatte Sie angerufen«, sagt Maria Iljina freundlich. Denn die Bücher könnten weiterhelfen. Sie geht mit ihm zu einem Regal, wo er in den Adressbüchern von damals nachschlagen kann. Da der Fechter aus Rumänien stammt, wird es schwierig. »Kommen Sie mal mit«, fordert Maria Iljina den Urenkel auf. Gemeinsam geht es ins Untergeschoss.
Das älteste Gebetbuch stammt aus dem Jahr 1847.
Hier gibt es keine Ventilatoren, es ist angenehm kühl und sehr still. Unter zig Regalen und Tausenden Büchern findet Maria Iljina mit einem Handgriff das entscheidende Buch Jüdische Sportler von Paul Yogi Mayer auf Englisch.
Der junge Mann ist angespannt. Während er in dem Buch blättert, geht Iljina durch das Untergeschoss. »Das ist unsere Schatzkammer«, sagt sie und zeigt auf alte Gebetbücher und andere Judaica. Das älteste Gebetbuch stammt aus dem Jahr 1847. Es steht in der Präsenzbibliothek und ist eines von 9000 Werken der Judaica-Abteilung. Eine Rarität: Moses Mendelsohns Buch über Ritualgesetze, betreffend Erbschaften, Vormundschaftssachen, Testamente und Ehesachen von 1799. »Manche Bücher müssen restauriert werden«, sagt die Bibliothekarin. Doch nun möchte sie erst einmal dem Mann die Turnzeitungen aus der Vorkriegszeit bringen, die auch hier stehen. Mit zwei dicken Bänden kehrt sie zurück. Die Augen des Urenkels leuchten. »Ich möchte meine Familiengeschichte kennen.«
Nicht nur ältere Leser kommen, sondern alle Generationen sind vertreten
»Unsere Stammkunden sind fleißig und kommen regelmäßig«, sagt Maria Iljina, zurück an ihrem Arbeitsplatz. Manche mailen vorab bereits die Liste mit Büchern, die sie gern hätten, und sie holt die Exemplare dann schon aus den Regalen. Viele nutzen auch das Online-Angebot. Nicht nur ältere Leser kommen, sondern alle Generationen sind vertreten. Bereits am Eingang sind Kinderbücher ausgestellt und laden zum Lesen ein.
Eine Frau Mitte 40 kommt an den Tresen. Sie hat eine große Stofftasche mit Büchern dabei, die sie und ihre Tochter ausgeliehen haben. Nun möchte sie sie zurückbringen. »Das ist eine Familie, die noch liest«, lobt Maria Iljina. Fast im selben Moment steuert eine ältere, sehr elegante Frau, auf den Lesebereich zu. Vor dem Ständer mit den Zeitungen bleibt sie stehen und nimmt sich eine mit. Dann taucht sie in die Lektüre ein.
Das Thema Schoa lässt die Bibliothekarin nicht los
Der suchende Mann kommt auf Maria Iljina zu. »Es ist doch verrückt, in der englischen Ausgabe steht mein Urgroßvater nicht unter den jüdischen Sportlern. In der deutschen aber schon.« Er schüttelt den Kopf und bleibt ratlos. Für heute hat er genug.
»Meine Familie wurde in Riga ermordet«, erzählt Maria Iljina. Nur ihre Mutter und deren Bruder konnten vor den Nazis fliehen. Das Thema Schoa lässt sie nicht los. Darüber hinaus liest sie gern Dokumentationen, Fachbücher, Biografien – und englische Romane. »Aber nicht während der Arbeitszeit, da habe ich genug anderes zu tun«, meint sie lachend. Maria Iljina wurde in Lettland geboren, dort absolvierte sie ein Studium als Bibliothekarin. Seit 30 Jahren ist die Bibliothek in der Fasanenstraße ihr Zuhause. Demnächst wird sie in Rente gehen. Schweren Herzens. Für heute schaltet sie erst einmal die Ventilatoren aus.