Langsam füllen sich die Sitzreihen im hell erleuchteten Berliner Dom. Während sich die Gottesdienst-Besucher untereinander begrüßen, kurz miteinander reden oder einfach nur nach oben in die Kuppel schauen, nimmt in der ersten Reihe Rabbiner Henry G. Brandt neben der Dompredigerin Petra Zimmermann Platz.
Plötzlich horchen alle Gäste im Dom auf, denn die Hörer des Deutschlandfunks, der dieser besonderen Gottesdienst am vergangenen Sonntag live und deutschlandweit überträgt, werden begrüßt. Jetzt merken auch diejenigen, die vielleicht noch nicht ins Programmheft geschaut haben, dass der Gottesdienst etwas anders ist als üblich.
Orgel »Am Israelsonntag beschäftigen wir uns damit, was Christen dem Judentum zu verdanken haben«, sagt Petra Zimmermann. »Und wir gedenken der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes.« Die Predigerin macht eine kurze Pause, und sogleich fängt Kantorin Avitall Gerstetter an zu singen. Einige Besucher drehen sich zur Seite, sehen zur Orgel hinauf und machen Fotos, andere schließen die Augen und lauschen andächtig.
Es ist das erste Mal, dass Gerstetter im Berliner Dom singt. Ihre glasklare Stimme überrascht die Besucher des Gottesdienstes. Für gewöhnlich singt Gerstetter in der Synagoge Hüttenweg und in der Synagoge Oranienburger Straße in Berlin. Sie habe sogar schon häufiger in christlichen Gotteshäusern gesungen, sagt Gerstetter, aber der Berliner Dom sei etwas Neues, etwas Besonderes eben. So sehen es auch die Gottesdienstbesucher. Als die Gemeinde ihr erstes Lied anstimmt, klingt es beinahe so, als wollte sie der Kantorin etwas zurückgeben – so laut und hingebungsvoll singen einige Besucher.
Verantwortung Dompredigerin Petra Zimmermann hatte dem Publikum vorab versprochen, dass »unsere jüdischen Geschwister« den Gottesdienst mitgestalten würden. Und nun warten alle auf Rabbiner Henry G. Brandt, der die Treppen zur Kanzel hinauf steigt. »Schalom«, sagt der 85-jährige Brandt, der neben seinem Vorsitz bei der Allgemeinen Rabbinerkonferenz auch die Gemeinde in Augsburg betreut. In seiner Predigt ruft er zur Verteidigung gleicher Grundrechte für alle Menschen auf.
Es sei Protest dagegen notwendig, dass »die Mehrheit der Menschen zur Dispositionsmasse degradiert« werde, sagt Brandt. Juden und Christen müssten gemeinsam dazu beitragen, dass Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein wieder stärker als Grundtugenden respektiert werden Reiche und Mächtige seien dabei stärker gefordert als Menschen, die in Armut leben.
Konzentriert hören die Gottesdienstbesucher zu, ab und an nicken zustimmend, besonders als Brandt sagt, je größer Besitz, Macht und Möglichkeiten des Einzelnen seien, desto größer sei die Verantwortung »für den Nächsten und die Schöpfung«. Außerdem müssten die Religionen eine »klare Stellung zu brennenden Fragen unserer Zeit beziehen« und Lösungsvorschläge anbieten. »Wir müssen uns den Herausforderungen unserer Zeit stellen.« So könnten die Konfessionen auch eine Führungsrolle beim Einsatz gegen Politikverdrossenheit übernehmen.
Segen Brandts Worte kommen gut an. Einige ältere Damen nicken und sagen leise zueinander: »Der Mann hat recht, eine gute Predigt ist das.« Nach ungefähr 20 Minuten verlässt Rabbiner Brandt die Kanzel, und Avitall Gerstetter stimmt erneut ein Lied an, diesmal singt sie es gemeinsam mit der Gemeinde – »Yerushalajim schel zahaw«. Das hört man auch nicht aller Tage. Aber den meisten Besuchern geht das Lied ganz gut über die Lippen. Nach einem Fürbittengebet im Anschluss spricht Brandt den Segen.
Er hat die Besucher berührt, dieser »Israelsonntag«, denn viele kommen nach vorne, schütteln dem Rabbiner und der Kantorin die Hand, machen ihnen Komplimente. Und auch Dompredigerin Petra Zimmermann hat dieser gemeinsame Gottesdienst im wahrsten Sinne des Wortes berührt, denn Rabbiner Brandt und sie umarmen sich eng und freundschaftlich. (mit epd)