Es ist Sonntagnachmittag, und in Michal Zamirs Wohnung herrscht Hochbetrieb. Denn einmal im Monat treffen sich bei ihr zu Hause in Wilmersdorf Hebräisch sprechende Berliner, um sich mit Lesestoff zu versorgen. »Manchmal sind es zwischen 30 und 40 Leuten, die kommen«, berichtet die gebürtige Israelin nicht ohne Stolz. »Sie leihen neue Bücher aus, bringen gelesene zurück, und nicht selten bleiben sie auch für ein paar Stunden.«
Genau deshalb stehen für alle reichlich Kaffee, Tee und selbst gebackener Kuchen bereit. Ihre »Stammgäste« steuern meist auch etwas bei. Schnell kommen Michal Zamirs alte und neue Besucher darüber miteinander ins Gespräch und diskutieren lebhaft über Literatur, ihre Erfahrungen im deutschen Alltag oder Politik.
»Genau das ist die Idee hinter unserem Konzept von der ›HaSifriya HaIvrit beBerlin‹, auf Deutsch: ›Die hebräische Bibliothek in Berlin‹«, bringt sie es auf den Punkt. »Wir wollten eine Art Treffpunkt etablieren, um Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenzubringen, die einfach nur eine große Sehnsucht nach der hebräischen Sprache und Kultur haben.« Und was eignet sich dafür besser als Literatur?
entdeckungen »Ich liebe einfach Bücher«, sagt Olga, eine junge Informatikstudentin aus Israel. »Doch selbst nach vier Jahren in Deutschland ist das Lesen in deutscher Sprache für mich eher Arbeit als Vergnügen. Deshalb komme ich hierher und entdecke immer wieder etwas Neues.«
Das sollte angesichts von mehr als 5000 Büchern in der Bibliothek von Michal Zamir und ihrem Mann, dem Philosophieprofessor Lukas Mühlethaler, wohl kein Problem sein. Und fast wöchentlich wächst die Auswahl.
»Oft bekommen wir Bücher geschenkt, die jemand während seiner letzten Israelreise gekauft hat und nach dem Lesen nicht mehr braucht«, erzählt Michal Zamir. »Oder wir erhalten Bücherspenden vom ›Merkas haSifrot vehaSefer‹, dem israelischen Zentrum für Literatur und Buch. Manchmal erreichen uns ganze Bücherkisten aus dem Nachlass von Personen, die vor mehreren Jahrzehnten aus Israel hierherkamen und nicht mehr dorthin zurückkehrten.«
So wie etwa von der 1944 in Jerusalem geborenen Architektin Ruth Golan-Zareh, die unter anderem die Renovierung der Synagoge Rykestraße betreute. »Da macht es auch nicht viel aus, wenn ein Buch mal nicht den Weg zu uns zurück findet«, ergänzt die »Bibliothekarin« lachend.
klassiker Das Angebot ist jedenfalls äußerst vielfältig. Von Unterhaltungsromanen à la Dan Brown über den gesamten Kanon der hebräischen Klassiker bis hin zu hebräischen Übersetzungen von Werken der Weltliteratur ist so ziemlich alles in Zamirs Regalen vorhanden.
»Eine breite Auswahl von hebräischen Kinder- und Jugendbüchern haben wir selbstverständlich ebenfalls.« Angesichts der zahlreichen Kinder, die bei den Treffen mit von der Partie sind und sich gleichfalls begeistert an den Bücherregalen bedienen, muss das eigentlich nicht extra erwähnt werden.
Michal Zamir kennt den Literaturgeschmack vieler Israelis aus erster Hand. »Wer neu nach Berlin kommt, sucht gerne Bücher, die irgendwie etwas mit der Stadt zu tun haben.« Hans Falladas Klassiker Jeder stirbt für sich allein oder Yoram Kaniuks Der letzte Berliner gehören definitiv zu Rennern.
»Aber auch über die Schoa oder das deutsche Judentum wollen viele anfangs lesen«, weiß sie aus ihren Erfahrungen zu berichten – ein deutliches Indiz dafür, dass die wachsende israelische Community sich sehr intensiv mit dem Ort auseinandersetzt, an dem sie nun lebt.
idee Entstanden ist die Idee vor rund sechs Jahren. »Mein Mann und ich zogen damals von New Haven in Connecticut, wo wir jüdische und islamische Philosophie studiert hatten, nach Berlin«, erinnert sie sich. »Wir selbst kamen mit reichlich Büchern im Gepäck.«
Diese begannen sie Freunden zu verleihen, im Gegenzug bekamen auch sie welche, die sie noch nicht kannten. »Daraus entwickelte sich ein regelmäßiger Treff zum Büchertausch in Cafés im Prenzlauer Berg.«
Und weil es laut Zamir in der ganzen Stadt »keine einzige Bibliothek mit einem vernünftigen Angebot an Büchern in hebräischer Sprache gibt«, beschloss das Ehepaar, selbst eine ins Leben zu rufen.
Gesagt, getan. Doch es entstand nicht einfach nur ein Treffpunkt mit angeschlossenem Kaffeekränzchen, bei dem Bücher verliehen werden. Es folgten Lesungen prominenter israelischer Autoren oder Konzerte.
autoren »Die organisiere ich natürlich nicht zu Hause, sondern im Berliner Kunstverein ACUD«, berichtet Michal Zamir. Dazu gehörte unter anderem ein Abend mit der Schriftstellerin Lizzie Doron und die Aufführung einer Theaterfassung ihres Buches Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?
In der Tat umfasst die Gästeliste so ziemlich das gesamte Who’s who der modernen israelischen Literatur, wie zum Beispiel Yehudit Katzir oder Dorit Rabinyan und Fania Oz-Salzberger, die aus ihrem Buch Juden und Wörter las.
Aber auch weniger bekannte Autoren liegen Michal Zamir am Herzen. »Wir haben auch viele Bücher von Lyrikern und Schriftstellern, die ihre Arbeiten im Eigenverlag herausgebracht haben.« Ihnen will sie mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
traum Zudem versteht sich die Hebräische Bibliothek als eine Art »Fenster zur israelischen Kultur«, das allen Interessierten offenstehen soll. »Nicht nur für Deutsche«, wie Michal Zamir betont. »Wir hatten auch schon einen Hebräischstudenten aus Jordanien zu Gast, der ein ausgesprochener Etgar-Keret-Experte ist.«
Irgendwie fühlt man sich in der Hebräischen Bibliothek denn auch sofort an die Traditionen jüdischer Literatursalons von einst erinnert. Doch Michal Zamir plant noch mehr: »Wenn auch noch ein israelisches Theater hier in Berlin entstehen könnte, wäre das die Erfüllung eines Traums.«