Berlin

Salon im Raumschiff

Im Jahr 1979 kam Ridley Scotts Alien in die Kinos. Der Frachter Nostromo, Schauplatz des Kultfilms, muss anschließend in Berlin-Westend gelandet sein. Dort steht seit ebenjenem Jahr das Internationale Congress Centrum (ICC), ein futuristischer Monsterbau mit Aluminium-Fassade, im Volksmund »Raumschiff« genannt. An diesem winterlichen Mittwochabend wirkt es verlassen, ein Relikt vergangener Zeiten.

»Wo wollen Sie hin?«, dringt unvermittelt eine Frauenstimme durch die Gegensprechanlage. »Zum Salon«, muss man sagen, um durch die Tür ins Innere des ICC gelassen zu werden. Die strenge Portierin erinnert an Alien-Jägerin Ripley. Sie weist den Weg: zwei Treppen hoch und dann rechts den Gang bis zum Ende durch. Dort gelangt man in die »Pullman«-Lounge. Wenn das ICC ein Raumschiff ist, ist hier die Brücke, und die Kapitänin heißt Larissa Smurago.

Die Intimität des klassischen Salons bewahren

»Was als Salon verkauft wird, ist oft nur eine Podiumsdiskussion ohne echte Publikumsbeteiligung«, sagt die Philosophin und Publizistin. »Und dann gibt es Lesekreise, die sich in der Regel schnell verlaufen.« Smuragos Projekt will das Beste beider Welten vereinen: Es bewahrt die Intimität der klassischen Salons, indem es nur halb öffentlich ist, sich vorwiegend an Freunde und Freundesfreunde richtet. Gleichzeitig schafft ein regelmäßiger Termin und ein von Smurago kuratiertes Programm Verbindlichkeit.

Der Gegenstand dieses Abends ist düster: Gezeigt und diskutiert werden vier Fotos aus Auschwitz, die einzigen, die jemals ein KZ-Insasse selbst anfertigen konnte. Ihre Ausstellung im Jahr 2001 in Paris sorgte für eine Kontroverse. Während manche das öffentliche Zeigen der Bilder, die schemenhaft nackte Frauen kurz vor ihrer Ermordung zeigen, als wichtig für das Verständnis der Schoa erachteten, widersprach unter anderem Claude Lanzmann: Kein Foto, so der legendäre jüdische Filmemacher, könne diesen Schrecken nachvollziehbar machen.

»Die Idee kam mir durch meine Beschäftigung mit Rahel Varnhagen.«

Larissa Smurago

Dieselbe Frage – zeigen oder nicht? – beschäftigt nun den kleinen Kreis im ICC. Alle Anwesenden kennen die Gastgeberin, zumindest um eine Ecke, und alle haben eine Verbindung zu Kunst und Geisteswissenschaften. Im Separee der Lounge wird angeregt geredet: über die Darstellbarkeit der Schoa, Bilder von Gewalt im Internet­zeitalter und den Verlust fotografischer Glaubwürdigkeit durch Künstliche Intelligenz. Eine Diskussion, wie sie damals über die Auschwitz-Fotos entbrannte, darin sind sich die Salongäste einig, würde heute so nicht mehr geführt. Social Media und die damit einhergehende Flut von Bildern haben unser Verhältnis zu Gewaltdarstellungen drastisch verändert.

Salon Smurago ist belebt von jüdischem Geist

Den Salon gibt es seit einem Jahr. Bei vorherigen Treffen wurden unter anderem Franz Kafka, Walter Benjamin und Jacques Derrida gelesen, jüdische Autoren also. Und überhaupt: Salon Smurago ist belebt von jüdischem Geist. »Die Idee für das Projekt kam mir durch meine Beschäftigung mit Rahel Varnhagen«, sagt die Initiatorin und Promotionsstipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES).

Die Schriftstellerin Varnhagen prägte um 1800 mit einer ganzen Reihe anderer Jüdinnen, etwa Henriette Herz oder Rahel Levin, die deutsche Salonkultur. »Als Frauen hatten sie trotz ihrer Zugehörigkeit zum Bürgertum keinen Zugang zu den Institutionen«, weiß Smurago. So seien sie dazu übergegangen, gebildete Gäste einfach zu sich nach Hause einzuladen. »Teegesellschaft nannte man das damals.«

Eine Tradition, an die Smurago anknüpfen will. Anders als Varnhagen steht ihr die Hochschule offen; derzeit promoviert sie an der Humboldt-Universität in Philosophie. Doch die Form des Salons sei nicht überholt, findet Smurago: »Hier sind die Freiheit in der Gestaltung und die Intensität des Austauschs nach wie vor am größten.«

Schon die Nebenkosten für das ICC sind astronomisch

Salon Smurago liegt nun jedoch vorerst auf Eis. Der gelehrte Zirkel muss das ICC bald verlassen. Im »Raumschiff«, das schon seit 2014 nicht mehr als Kongresszentrum genutzt wird, fand vorübergehend das Deutsche Symphonie-Orchester Platz für seine Proben. In dieser Zwischenphase konnte auch der Salon in dem besonderen Bau stattfinden. Doch noch in diesem Jahr soll das ICC einen neuen Betreiber bekommen, die Ausschreibung für ein Nutzungskonzept läuft gerade. Ideen hätte sie ja, beteuert Smurago, allein das Geld fehle. Schon die Nebenkosten für den 70er-Jahre-Koloss sind astronomisch.

Für diesen wohl letzten Abend müssen die Salonière und ihre Gäste das Gespräch beenden, das Gebäude macht gleich zu. Während es draußen stockdunkel ist, gehen sie durch die langen künstlich beleuchteten Gänge zurück zum Ausgang. Pünktlich um 22 Uhr schließt die Portierin die Türen ab. Die Nacht im ICC gehört den Geistern und Außerirdischen.

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