Jetzt musste er sich entscheiden, dessen wurde sich Otto Weidt am 10. November 1938 bewusst. Entweder würde er weiter untätig bleiben und Mitschuld an der Verfolgung der Juden auf sich laden. Oder er musste sich etwas einfallen lassen – und dafür womöglich mit seinem Leben bezahlen.
Am Tag nach der Pogromnacht konnte keiner mehr ignorieren, dass Hitler es ernst meinte mit seinen Drohungen gegen die Juden, wusste der Berliner Kleinunternehmer – so geht es aus seiner Korrespondenz hervor, die im Museum »Blindenwerkstatt Otto Weidt« ausgestellt ist. Zuvor waren die Nationalsozialisten marodierend durch die Straßen gezogen, hatten jüdische Geschäfte ausgeraubt, Synagogen angezündet und viele Juden ermordet.
Weidt entschied sich zu helfen. Anfang der 40er-Jahre eröffnete er im Hinterhof der Rosenthaler Straße 39 in Mitte eine Blindenwerkstatt, in der Besen und Bürsten produziert wurden. Seine Waren verkaufte er hauptsächlich an die Nazis, weshalb sein Betrieb als »wehrwichtig« eingestuft wurde. Was keiner wusste: Der 1883 in Rostock geborene Weidt beschäftigte heimlich überwiegend blinde und gehörlose Juden und rettete sie so vor der Ermordung.
Besuch Fast auf den Tag genau 75 Jahre nach Weidts Entschluss stehen die Schoa-Überlebende Inge Deutschkron und Bundespräsident Joachim Gauck vergangenen Freitag in den Räumen der früheren Werkstatt. Hier, wo Otto Weidt untergetauchte Juden rettete, befindet sich heute das Museum »Blindenwerkstatt Otto Weidt«. Gemeinsam wollen Gauck und Deutschkron anlässlich des 75. Jahrestags der Pogrome vom 9. November 1938 an die Holocaust-Opfer erinnern und Weidt für seinen Mut würdigen.
»Genau hier ist es gewesen«, sagt die 91-jährige Deutschkron zu Gauck gewandt, bei dem sie sich untergehakt hat. »In diesen Räumen habe ich gearbeitet.« Die Wilmersdorferin ist eine der Überlebenden, die dem postum als »Gerechter unter den Völkern« geehrten Weidt das Leben zu verdanken haben. Von 1941 bis Anfang 1943 hatte sie in der Blindenwerkstatt gearbeitet, später halfen ihr auch andere Menschen, den Nazi-Terror zu überleben.
Held Nachdenklich schaut Inge Deutschkron sich nun bei ihrem Rundgang mit Gauck durch die einstige Werkstatt in dem kleinen Räumen des Museums um. »Otto Weidt ist ein moderner Held«, sagt sie schließlich. Er habe das getan, was viele Menschen in der NS-Zeit unterlassen hätten: »Dies ist ihm gar nicht hoch genug anzurechnen.«
Sichtlich beeindruckt von der Biografie Weidts ist auch Bundespräsident Gauck. Selbst in schlechten Zeiten habe jeder Mensch immer die Wahl, seinem Gewissen zu folgen und das Richtige zu tun, sagt Gauck. Der Widerstand des stillen Helden Weidt gegen den Nazi-Terror sei eine »Insel der Humanität inmitten der Barbarei gewesen«. Der selbstlose Einsatz des Kleinunternehmers zeige: »Man hat immer die Wahl, Sachwalter des Bösen zu sein oder aber im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen.«
Gauck ist an diesem Nachmittag anzumerken, dass er seinen Besuch nicht bloß als einen weiteren Pflichttermin in der Reihe der vielen Gedenkveranstaltungen rund um den 9. November begreift. Er hört zu, stellt Fragen, liest interessiert in überlieferten Dokumenten Weidts. Anders als im Protokoll vorgesehen, nimmt sich der Bundespräsident mehr als anderthalb Stunden Zeit für den Besuch des Museums.
DAnk Bei der Verabschiedung will sich Inge Deutschkron dafür bei Joachim Gauck bedanken. »Nein«, entgegnet Gauck, »nicht Sie haben zu danken, Frau Deutschkron. Die Bundesrepublik bedankt sich bei Ihnen, dass Sie wieder in Deutschland leben!« Ins Gästebuch des Museums trägt er bei seinem Abschied folgende Sätze ein: »Otto Weidt mochte das Wort ›unmöglich‹ nicht. Er tat mehr als das Mögliche. Wir haben eine Chance.«