Kassel

»Sachor: Der Zukunft ein Gedächtnis«

Kassel hat in diesem Jahr viel zu feiern. Groß prangen die Lettern zum 1100-jährigen Stadtjubiläum am Rathaus. Die Stadt feiert aber auch 60 Jahre Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und richtet in diesem Jahr die offizielle Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit aus.

Mit Aufrufen gegen den Antisemitismus ist die Woche, die unter dem Motto »Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis« steht, am Sonntag im Stadttheater Kassel eröffnet worden. Dabei wurden das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut sowie die Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) bezeichnete es als außergewöhnlich, dass schon 1948 im »Land der Täter« die erste christlich-jüdische Gesellschaft gegründet wurde. Ziel müsse sein, dass alle Menschen in Frieden, Freiheit und ohne Angst leben könnten.

Laudatio Die frühere Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, würdigte in ihrer Laudatio für die Preisträger das Eintreten des Fritz-Bauer-Instituts für eine differenzierte, generationsübergreifende Gedächtniskultur. Das Institut erforscht die Geschichte und Wirkung des Holocausts und ist benannt nach dem ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968), der die Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965 angestoßen hat. »Fritz Bauer wusste, dass Verantwortung nicht verjährt«, sagte Knobloch.

Mirjam Pressler gehöre zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Tage, sagte Knobloch weiter. Ihre Geschichten seien von der Erkenntnis getragen, dass man der Vergangenheit nicht entfliehen könne. Mit ihren Übersetzungen hebräischer Literatur trage sie zudem dazu bei, Fremdheiten abzubauen und das Verständnis für die differenzierte israelische Gesellschaft zu fördern.

Programm Die Stadt freue sich über die Ehre, dass sie die zentrale Eröffnung ausrichten dürfe, versicherte Oberbürgermeister Bertram Hilgen. Dabei hat Kassel viel zu bieten und beschränkt seine Vorträge, Rundgänge und Ausstellungen keinesfalls auf das erste Märzwochenende.

Dieses freilich hat es in sich. Am Freitag begann das offizielle Programm mit der Vernissage zur Franz-Rosenzweig Ausstellung »Ich bleibe also Jude« in der Schaustelle des Stadtmuseums. Eine kleine feine Präsentation von Zeitzeugnissen, dem Doktordiplom Rosenzweigs zu Friedrich Hegels Staatstheorie, Porträts und Miniaturen jüdischer Familien in Kassel und die berühmte Kaiserlade von Sigmund Aschrott, die das letzte Mal 2006 gezeigt wurde. Der jüdische Kaufmann und Industrielle Aschrott hatte sie Wilhelm II. im September des Jahres 1891 »allerunterthänigst« gewidmet.

geschenk Warum der Monarch das Geschenk nicht entgegennehmen wollte, darüber gibt es nur Vermutungen. Die Mitarbeiter des Stadtmuseums sehen darin den Ausdruck eines frühen Antisemitismus. Jedenfalls blieb der Erbauer des Hohenzollernstadtteils auf seiner Kaiserlade sitzen, und so war sie weiterhin Teil des Aschrottschen Familienbesitzes.

Etwa 50 Besucher waren in das ehemalige Ladenlokal gekommen, das dem Stadtmuseum während seiner Umbauzeit als Ausweichquartier dient. Oberbürgermeister Bertram Hilgen erinnerte daran, dass dies bereits die dritte Ausstellung sei, die die Stadt nach 1986 (100. Geburtstag Rosenzweigs) und 2004 (75. Todestag) ihrem großen Sohn widmet. OB Hilgen betonte die Bedeutung besonderer Leihgaben aus dem Privatbesitz von Rosenzweigs Schwiegertochter: »Wir haben damit Franz Rosenzweig erneut in seine Geburtsstadt zurückgeholt.«

In Ausstellungsvitrinen liegen Rosenzweigs Hauptwerk »Stern der Erlösung«, Schreibutensilien und Miniaturen von jüdischen Kasseler Honoratioren. Rechnungen und ein Arbeitszeugnis für »Fräulein Else Neumann« zeugen von der Assimilation der Familie Rosenzweig in die Kasseler Gesellschaft: Vater Georg Rosenzweig war zusammen mit Theodor Baumann Inhaber einer Fabrik für Spezialfarben und Lacke.

Rundgänge Bei strahlendem Sonnenschein fanden sich am Samstagmittag rund 60 Interessierte am Aschrott-Brunnen vor dem Kasseler Rathaus ein. Sie begaben sich auf die Rundgänge unter dem Motto »Auf den Spuren der Verfolgung der Juden in Kassel«, die der Leiter der Gedenkstätte Breitenau, Gunnar Richter, führte, sowie »Vor aller Augen: Verfolgung und Terror in Kassel ab 1933« mit Thomas Ewald.

Die Spuren der Verfolgung sind weitestgehend verwischt. Der Aschrott-Brunnen selbst ist heute nur noch als Negativform ein Mahnmal des Kasseler Documenta-Künstlers Horst Hoheisel, das zwölf Meter in den Boden hineinragt und den Grundriss des einstigen Brunnen nachzeichnet, den der jüdische Industrielle seiner Stadt gestiftet hatte. Nachdem Adolf Hitler 1939 Kassel als Stadt der Reichskriege besucht hatte, war der Brunnen als »Judenbrunnen« mutwillig beschädigt und schließlich abgerissen worden.

boykott Der Weg führte weiter über den Karlsplatz mit einer Bronzetafel, die auf die Gaststätte »Bürgersäle« verweist, dem Versammlungsort der NSDAP und SA. Im Kellergewölbe wurden Juden und politisch Missliebige gequält und gefoltert. Einer der Ersten, die an den Folgen der Misshandlungen starben, war der jüdische Rechtsanwalt Max Plaut. Auf dem Opernplatz hatten Nazis bereits im März weit vor dem Aufruf zu den Boykotten jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 dazu aufgerufen, »nicht mehr bei Juden zu kaufen«.

Der Endpunkt des kurzen Rundganges war das Gleis 13 des Kasseler Bahnhofs. Rund 1000 Juden aus Kassel sowie weitere 2000 aus der Umgebung wurden von hier aus im Dezember 1941 nach Riga und im Juni und September 1942 in die Konzentrationslager Majdanek, Sobibor und Theresienstadt deportiert. Ein Gepäckwagen mit 3000 Erinnerungssteinen in Gedenken an die Deportierten ist dauerhaft in einer Ecke der Haupthalle zu sehen. Heute gehen von den Bahnsteigen nur noch Nahverkehrszüge ab.

Preisträger Der Nachmittag und Samstagabend war den Preisträgern der Buber-Rosenzweig-Medaille vorbehalten. Der Leiter des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt, Raphael Gross, erläuterte vor rund 200 Zuhörern im Ratssaal des Kasseler Rathauses, wie es zu den Novemberpogromen 1938 kommen konnte und ging auf die unterschiedliche Aufarbeitung der Nazizeit in der frühen Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland ein. Als Aufgabe seines Instituts in der Zukunft sieht er mit Verweis auf den Namensgeber die Pflicht, jüdische Geschichte nicht als Opfergeschichte zu formulieren, sondern als positive gegenwärtige Kulturgeschichte zu vermitteln.

Die Autorin und Übersetzerin Mirjam Pressler las am Abend in der gut besuchten Karlskirche aus ihrem 2011 erschienenen Werk Ein Buch für Hanna. Eva Schulz-Jander von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Kassel und katholische Vorsitzende im Koordinierungsrat stellte ihre Favoritin für die Buber-Rosenzweig-Medaille vor.

erfahrungsschatz Mirjam Pressler sei eine Frau mit einem weiten Horizont, die sich zwischen Übersetzungen aus dem Hebräischen, Englischen und Jiddischen, eigener Autorenschaft bis hin zum Betreiben eines eigenen Jeansladens bewegt. Dieser Erfahrungsschatz, das Umhergehen mit offenen Augen hat sie auch zu einer der meistgelesenen Kinder- und Jugendbuchautorinnen und Übersetzerin von Werken von Amos Oz, Batya Gur oder Zeruya Shalev gemacht.

Die Veranstaltungen zur Woche der Brüderlichkeit haben viele Anstöße und interessante Auseinandersetzungen geboten, und doch bleibt die Erkenntnis: Sachor, Gedenken ist und bleibt die Angelegenheit von älteren Menschen. Bei Ausstellung, Führung, Vortrag und Lesung überwogen die Zuhörer jenseits der Pensionsgrenze. Nur wenige jüngere Menschen waren aus Interesse, mehr über Kassel und die hier lebenden Juden zu erfahren, gekommen. Vielleicht, weil zu wenig geworben wird? Die Touristikbüros an den Bahnhöfen oder am Rathaus halten keinerlei Informationsmaterial zur Woche der Brüderlichkeit vor.

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