Ein ungläubiges Staunen über die so rasch vergangene Zeit lag in Margot Lenzes Augen, als sie auf der Bühne des Norderstedter Festsaals am Falkenberg saß und Stadtpräsidentin Kathrin Oehme sie für 70 Jahre Mitgliedschaft beim hiesigen Amateurtheater ehrte. Den Theaterverein hatte ihr Vater Alfred Stern 1947 als »Garstedter Laienspieler 1947« gegründet.
Die Nationalsozialisten ermordeten in der Schoa sechs Millionen Juden – Alfred Stern wäre beinahe unter ihnen gewesen, denn auch er war Jude.
»Ich bin am 10. Januar 1933 geboren, in dem Monat, in dem Hitler die Macht an sich riss, und am 1. September 1939, als er Polen überfiel, wurde ich eingeschult«, sagt Alfred Sterns Tochter Margot Lenze, und es schwingt ein bitterer Sarkasmus in ihrer Stimme. Ihre Schwester Gerda kam am 30. August 1935 zur Welt – ebenfalls in Garstedt und heute ein Ortsteil von Norderstedt. Margot und Gerda Lenze wurden im Haus der Eltern im Rosenstieg geboren, dem Haus, das ihr Vater im Dezember 1935 weit unter Wert an die Nazis verkaufen musste.
PAPIERE Wie lebte es sich mit einem jüdischen Vater, der nach dem Rassenwahn der Nazis als Jude auf deren Todesliste stand? »Wir waren durch unsere christliche Mutter geschützt«, sagt Margot Lenze. Doch ihr Vater durfte bereits seit 1933 nicht mehr in seinem Beruf als Krankenpfleger im Ochsenzoller Krankenhaus arbeiten. Der damalige Garstedter Bürgermeister Friedrich
Lange stellte Alfred Stern in seinem Futtermittelbetrieb ein. Doch auch Lange war bald im Visier der NSDAP, denn er war Mitglied der SPD.
Alfred Stern fand noch Arbeit als Schichtarbeiter im Hamburger Hafen. »Er musste Säcke mit heißem Zement schleppen, und wir hatten immer Angst, dass er nicht mehr nach Hause kommt«, erinnert sich Gerda Stern, verheiratete Schmidt.
Am 10. November wurde Alfred Stern abgeholt und verschleppt. »Der Polizist, der das machen musste, stand in unserer Küche und weinte«, erinnert sich Margot Lenze.
Derweil versuchte die Mutter Elisabeth Stern, mit der Hilfe von Friedrich Lange heimlich Papiere für die Emigration in die USA zusammenzustellen. Doch eine in den USA lebende Tante wollte für die kleine Familie aus Deutschland nicht bürgen. Und dann kam der 10. November 1938, die Pogromnacht. Alfred Stern wurde abgeholt und in ein Konzentrationslager verschleppt. »Der Polizist, der das machen musste, stand in unserer Küche und weinte«, erinnert sich Margot Lenze.
KZ Die Nazis deportierten ihren Vater ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Nach einem Vierteljahr Schikane und härtester Arbeit kehrte er im Februar 1939 zurück – auch dank der Hartnäckigkeit seiner Ehefrau, die immer wieder die NS-Ämter belagerte. Ihr einst so fröhlicher Ehemann kam als gebrochener, kranker Mann zurück. Bei der »Vernichtung durch Arbeit« fiel eine voll beladene Lore auf ihn.
»Als wir ihn wiedersahen, sagte meine Schwester: ›Hat Papa einen neuen Kopf bekommen?‹, denn seine Haare waren geschoren, in seinem Körper waren die Organe verschoben, er sah uralt aus«, sagt Margot Lenze mit leiser Stimme.
Trotzdem arbeitete Alfred Stern wieder im Hamburger Hafen, denn die Familie litt Not, auch weil ihre Lebensmittelkarten mit einem »J« für Juden abgestempelt waren und sie deshalb nur kleine Rationen erhalten durften.
NACHBARN »Unsere Eltern waren aber sehr beliebt in der Nachbarschaft, alle beide, und so steckten uns viele liebe Menschen Lebensmittel zu«, sagt Gerda Schmidt.
Vom Bauern Buck am Rugenbarg erhielt die Familie, die mittlerweile ihr geliebtes Haus im Rosenstieg verlassen musste und in einem Mietshaus an der Ohechaussee wohnte, Milch, und auch die Bäckersfrau packte ihnen manches Brot mehr ein.
Doch es gab auch schlechte Nachbarn. »Der Quast, der war bei der SS. Der schlich immer um unser Haus herum und horchte, ob wir Radio hörten, denn das durften wir als Juden nicht«, sagt Margot Lenze. Das Radio aber hatten die Nazis den Sterns schon lange weggenommen.
Alfred Stern legte den Grundstein für fünf weitere Norderstedter Amateurbühnen.
Im nichtjüdischen Teil der Familie gab es Judenhasser. »Unser Cousin sagte einmal, wenn er einen Juden treffen würde, würde er ihm nicht die Hand geben. Er wusste nicht, dass unser Vater Jude war«, erinnert sich Margot Lenze.
SCHULE Gerne wären die Schwestern auf eine höhere Schule gegangen, aber das war ihnen als Töchter eines Juden verboten. »Doch unsere Mitschüler und auch die Lehrer drangsalierten uns nicht wie beispielsweise Henriett Strauß, die im Langen Kamp wohnte«, sagt Gerda Schmidt. Henriett Strauß wurde von Mitschülern sogar mit Steinen beworfen, weil ihr Vater Jude war.
Als aber mit Beginn der 40er-Jahre auch »Halbjuden«, zu denen nach Nazi-Doktrin auch Margot und Gerda Stern gehörten, die Deportation drohte, trieb Mutter Elisabeth Stern erneut das Ausreisevorhaben voran. Ohne Erfolg. Ihren Vater benutzten die Nazis, um 1943 nach den Hamburger Bombennächten die gefährlichen, mit Phosphor kontaminierten Trümmer wegzuräumen.
SCHOCK Dann aber der erneute Schock. Noch am 14. Februar 1945 stand die Gestapo vor der Tür und holte Alfred Stern ab: Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt. Im KZ Theresienstadt, so erzählte Alfred Stern seinem späterer Schwiegersohn Carlos Schmidt in einer der seltenen Stunden, in denen er überhaupt über seine Leidenszeit sprach, habe ein Aufseher zu ihm gesagt: »Du jüdisches Schwein, wenn du nicht so blaue Augen hättest, würde ich dich sofort erschießen.«
»Du jüdisches Schwein, wenn du nicht so blaue Augen hättest, würde ich dich sofort erschießen«, sagte ein KZ-Aufseher zu ihm.
Alfred Sterns Mutter war bereits 1915 gestorben. Eine Schwester und ihren ebenfalls jüdischen Verlobten ermordeten die Nazis im KZ. Auch seine Schwester Trudel musste mehrere Konzentrationslager erleiden, überlebte aber und kehrte nach Hamburg zurück.
Eines Tages sagte sie zu Elisabeth Stern und ihren Töchtern plötzlich: »Alfred steht vor der Tür!« Die Rote Armee befreite Alfred Stern am 8. Mai 1945 aus dem KZ Theresienstadt. Über die Elbbrücken, die zerstört waren, kam er wenige Tage später durch das zerbombte Hamburg nach Garstedt zurück.
STUDIO »Der englische Kommandeur gab ihm im Juni 1945 seine Stellung im Ochsenzoller Krankenhaus zurück«, erzählt Margots Ehemann Horst Lenze. Alfred Stern wurde pflegerischer Stationsleiter. Das Haus im Rosenstieg allerdings wollte er nicht wiederhaben, er verzichtete sogar auf jede Entschädigung.
Dafür gründete er, der schon immer eine Liebe zum Theater hatte, den Verein Garstedter Laienspieler, der 1948 zur Volksspielbühne »Garstedt von 1947« wurde und mit der Stadtgründung Norderstedt zum Norderstedter-Amateur-Theater (NAT) – in dem heute auch seine Urenkel mitspielen.
Die Stadt ehrt Alfred Stern, eine Stele erinnert an ihn – und Unbekannte schändeten sein Grab.
Damit legte Alfred Stern auch den Grundstein für fünf weitere Norderstedter Amateurbühnen. Zur Erinnerung an diesen tapferen Mann nannte die Stadt den kleinen Saal im Kulturwerk »Alfred Stern Studio«. Außerdem stellten der Kulturverein »Chaverim – Freundschaft mit Israel« und die Stadt mit dem Bildhauer Thomas Behrendt eine Gedenkstele für Alfred Stern an seinem Haus am Rosenstieg 30 auf.
Doch jetzt holt die Vergangenheit die Familie ein. Von Elisabeth und Alfred Sterns Grabstein auf dem Garstedter Friedhof schlugen Unbekannte kürzlich 19 von 24 Buchstaben der Namen ab. Die Polizei ermittelt.