Vor kurzem hat Leon Lehmann noch Blutwurst hergestellt. Der gelernte Fleischermeister hat in einem Laden in Berlin-Neukölln Schweineschwarten aufgekocht, sie mit dem roten Saft vermengt und in Därme gepresst. Dann traf er im Treppenhaus seinen Nachbarn Aviel. Aviel Avdar, der immer seine Kappe trägt und dessen Augen lächeln. Der stets einen Spruch auf den Lippen hat, mit warmem israelischem Akzent. Aviel, der eine Idee hat: Vielleicht könnte Leon die Blutwürste an den Fleischerhaken hängen und bei ihm anfangen.
Jetzt steht Leon Lehmann vor einem blitzenden Metalltisch und schneidet Stücke von einem Rinderknochen. Bei jedem Schnitt rasselt der schwere Kettenhandschuh, der seine linke Hand davor schützt, sich mit der scharfen Klinge zu verletzen. Seine kräftigen Arme sind blauschwarz tätowiert, seine kupferfarbenen Locken wollen sich nicht vom Zopfgummi zähmen lassen.

Leon Lehmann ist der erste koschere Fleischermeister in Berlin seit über zehn Jahren. Er ermöglicht es, dass Berliner Jüdinnen und Juden kein tiefgefrorenes Importhühnchen mehr essen müssen, sondern auch mal ein echtes gereiftes Steak genießen können – oder Rinderrouladen, geschmorte Beinscheibe und natürlich: Tscholent. Sein Kollege sagt sogar, Leon mache den besten Tscholent im Team. Dabei wusste er bis vor wenigen Monaten noch gar nicht, was es mit diesem Schabbeseintopf auf sich hat.
3000 Kilometer von Jerusalem entfernt religiös leben – und koscher essen
Aber von vorne. Die Geschichte der koscheren Fleischerei, die im September im Berliner Westend eröffnet hat, beginnt ja nicht bei Leon Lehmann, sondern bei Aviel Avdar, seinem Nachbarn mit der Kappe. Vielleicht beginnt sie schon 2000, als sich Aviel von seiner jemenitischen Familie in Israel verabschiedet, um ins hippe Berlin zu ziehen. Oder sie beginnt erst 2012, als er beschließt, 3000 Kilometer von Jerusalem entfernt religiös zu leben – und koscher zu essen. Das hieß 2012 vor allem, die Gemüseabteilung zu durchforsten und mit etwas Fisch und Eiern zu ergänzen, erzählt Aviel. Neidisch schielte er damals auf den Teller seines Mitbewohners, der Gerichte in ihrer WG-Küche zauberte. »Gutes Fleisch habe ich sehr vermisst«, sagt Aviel. Aber koscher war es kaum zu bekommen.
Um zu zeigen, was dem Angebot in Berlin bisher fehlte, führt Aviel nun an Leon vorbei, der noch die Rinderschulter zerhackt, und öffnet die Tür zum sogenannten Reifeschrank: ein gefliester kleiner Raum, vielleicht sechs Quadratmeter. Es ist kalt. Von der Decke hängen die Kadaver, so wie man sie als Konsument nur selten sieht: Sehnen, Muskeln und Knochen, Teile eines massiven, toten Körpers. Ins nackte Fleisch sind verschiedene Koscherstempel eingebrannt: Sie markieren die Tiere, deren Lunge nach dem Schlachten glatt, ohne Löcher und Verfärbungen war – strenge Kriterien, die vor allem sefardische Juden an ihr Fleisch anlegen.
Optimale Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen
»Hier hängt das Ganze erst mal ein paar Tage«, sagt Aviel. Bei optimalen Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen verliert das Fleisch so eine Menge Flüssigkeit, der Geschmack wird intensiver. Erst dann wird es weiterverarbeitet oder eingefroren verkauft. Die Zeit verbessert die Qualität.
»Wegen des Schächtverbots ist es für uns einfacher, das Fleisch von einem jüdischen Schlachter in Polen zu kaufen und dann hier zu veredeln«, erklärt Aviel. Das Schlachten eines unbetäubten Tieres mit einem Schnitt durch die Kehle gilt in Deutschland generell als nicht mit dem Tierschutz vereinbar. Gläubige Muslime und Juden halten dagegen, dass durch eine scharfe Durchtrennung der Blutbahnen das Tier praktisch sofort bewusstlos werde und schmerzfrei sterbe.
In Deutschland nach koscherem Gesetz zu schächten, ist nach wie vor höchst kompliziert.
Das Bundesverfassungsgericht versuchte 2002 einen Ausgleich: Aus religiösen Gründen können Ausnahmegenehmigungen für Schächtungen erteilt werden, sofern das Fleisch des getöteten Tieres von Personen verzehrt wird, denen zwingende religiöse Vorschriften den Verzehr des Fleisches nicht geschächteter Tiere verbieten. Eine Genehmigung bekomme man allerdings nur für privates Schächten im kleinen Rahmen, sagt Aviel. Er konzentriert sich daher auf die erlaubte Weiterverarbeitung des koscheren Fleisches. Auch das sei ja bereits eine Errungenschaft gegenüber den gefrorenen Stücken, die man in den wenigen koscheren Supermärkten der Stadt bekommt.
Auf den weißen Fliesen unter den Kadavern trocknen Blutsprenkel. »Kein Blut«, korrigiert Aviel, »Fleischsaft!« Das eigentliche Blut ist bereits aus dem Tier geflossen, als es geschächtet wurde. Die Seele, die der Tora zufolge darin steckt, muss entweichen. Danach darf der Mensch essen, was ihm am Anfang eigentlich gar nicht zustand.
Erst nach der Sintflut nämlich erlaubte Gott das Verspeisen anderer Lebewesen – damit der Mensch nicht wieder auf die Idee komme, sinnlos Blut zu vergießen. Der Talmud schreibt entsprechend, dass jemand, der zur Gewalt neige, seine niederen Triebe als Schlachter ins Positive kehren sollte. Aviel allerdings wirkt viel zu sanft, als dass er jemand sein könnte, der gerne Blut fließen sieht. Seine Motivation, eine Fleischerei zu eröffnen, rührt woanders her.

Die meiste Zeit seines Lebens hat Aviel in ganz anderen Jobs gearbeitet. Als er nach Berlin kam, hat er für die Sicherheit der Jüdischen Gemeinde gesorgt. Dort lernte er auch Raanan Koren kennen, die beiden wurden Mitbewohner. Heute steht Ranaan hinter der Glastheke und sortiert die Salate und Saucen, bevor die Gäste am Mittag in den Laden strömen. »Hätte ich nicht gedacht, dass ich als säkularer Linker mal einen koscheren Laden mitleite«, grinst Raanan. Aber Aviel konnte seinen ungleichen Freund von der Idee überzeugen. Als 2020 Corona alles lahmlegte, habe er ihm gesagt: »In der Pandemie überleben die, die Essen verkaufen!«
Und noch einer war zu jener Zeit auf der Suche nach einem neuen Job: Cem Yilmaz, den Aviel in der Werbebranche kennengelernt hatte. »Ich konnte nicht mehr, hatte keine Kraft«, erzählt Cem. Der Stress des Schreibtischjobs ließ einen Ausschlag auf seiner Haut wuchern. Cem ist damals Anfang 50, hat Kinder. Trotzdem krempelt er alles um – und die Ärmel hoch. »Seit ich mit meinen Händen arbeite, habe ich den Kopf frei, und der Ausschlag ist weg«, beteuert er.
Für die drei Männer ist die Fleischerei mehr als nur eine wilde Geschäftsidee
Für die drei Männer, die alle gleichberechtigt als Geschäftsführer die Fleischerei leiten, ist sie mehr als nur eine wilde Geschäftsidee. Für Cem ist sie ein Neuanfang. Für Aviel bedeutet sie, es mehr Juden zu ermöglichen, koscher zu leben.
Und Raanan verteidigt hier sein Erbe. Er weist auf das Schild über den Ketchup-Flaschen: »Fleischerei Röttgen« steht da. Röttgen, das ist der Nachname seiner Mutter. Ihre Familie betrieb einst eine Metzgerei in Bochum. 1939 verließen sie die Stadt, nur Raanans Großvater überlebte den Vernichtungswillen der Nazis und schaffte es nach Palästina. Seinen Spitznamen Gollca trägt nun der zur Fleischerei gehörende Imbiss.
Inzwischen schneidet Cem in der Küche einen ganzen Berg Zwiebeln in dünne Streifen, Montags macht er Gulasch, bis zu 30 Liter, es ist ein Verkaufsschlager. Cem ist fürs Kochen verantwortlich: Gemeinsam mit Leon, dem Fleischermeister, kreiert er jeden Tag ein frisches Gericht für den Mittagstisch. Die Rezepte stammen von seiner türkischen Mama und seiner deutschen Schwiegermutter.
Die Rezepte stammen von den Müttern und Schwiegermüttern: Aus der Türkei, aus dem Jemen, aus Israel und aus Deutschland.
»Wir sind eine richtige Männerwirtschaft«, lacht Cem. »Wir sind oft chaotisch und überlegen erst kurz vorher, wie der Speiseplan für die kommende Woche aussieht.« Dafür hat eine Frau in der Küche das letzte Wort: Rut Amirwaliyev wacht als Maschgicha über die Einhaltung der Koschergesetze. Sie kontrolliert, ob die Petersilie für Cems Köfte ohne Käfer ist, checkt jedes Blatt des Weißkohls für die Rouladen auf Ungeziefer.
»Ich habe vorher nicht gewusst, wie kompliziert das alles ist«, sagt Cem. »Das sind hier halt die Spielregeln«, sagt Leon. Er nehme das sportlich. Neulich wollte er Pastrami machen. »Da musste ich dann erst mal rausfinden, wo ich koschere Gewürze herbekomme.«
Draußen vor der Küche, hinter dem Bullauge, dringen nun immer mehr Gäste in den Laden und geben bei Raanan ihre Bestellungen auf. »Mittags haben wir hier viele Rentner«, erklärt Raanan. Deswegen würden sie auch versuchen, die Preise für die fertigen Gerichte niedrig zu halten, selbst wenn das Fleisch teurer ist.
»Bei Lidl gibt’s so was nicht!«
Eine Frau mit graublondem Bob und Einkaufstüten stöckelt herein. Sie sei Stammgast, erklärt Aviel. »Ich habe keine Lust mehr, jeden Tag zu kochen«, sagt die Frau. Ob sie wisse, dass das Fleisch hier koscher sei? »Klar! Schmeckt auch! Bei Lidl gibt’s so was nicht!«, sagt sie und setzt sich mit ihrem dampfenden Teller in die Sonne.
Dann betritt ein Käufer mit Pejes und Zizit den Laden und inspiziert die Fleischtheke. Die orthodoxen Kunden kommen aus ganz Berlin, manche sogar aus anderen Städten, um Hochwertiges für Schabbat oder die Feiertage zu kaufen.
Aviel, der vor zehn Jahren die Idee entwickelte, eine koschere Fleischerei in Berlin zu eröffnen, grinst zufrieden. »Am Anfang wollte ich natürlich in ein Viertel, wo es viele observante Juden gibt«, sagt er. Aber hier im Westend kommen eben alle zusammen: die Rentner, die das Gefühl einer echten Metzgerei schätzen, und die Orthodoxen, die manchmal mitten im Laden das Nachmittagsgebet verrichten. Die türkischen Gerichte von Cems Mama, das Erbe von Raanans deutsch-jüdischem Großvater und die religiöse Leidenschaft von Aviel. Und der Fleischermeister aus Neukölln, der statt Blutwurst jetzt Pastrami in die Auslage legt.
Die Fleischerei befindet sich in der Meiningenallee 1, 14052 Berlin