»Jetzt habbe die aach bald ihr Kersch widder«, sagt die Frau an der Bushaltestelle im breiten Mainzer Dialekt zu einem vorbei- gehenden Passanten. Auch wenn Kirche und Juden nicht ganz zusammenpassen, und der junge Mann nicht allzu viel mit dem Kommentar anfangen kann, sie erklärt ihm gleich noch, dass die alte »Kersch« ja 1938 »abgefackelt wurde«.
Nun, in Teilen hat sie recht. Hier, auf dem Eckgrundstück an der Hindenburgstraße im Mainzer Stadtteil Neustadt, soll in gut drei Monaten das neue Synagogenzentrum eröffnet werden. Und hier stand die alte Hauptsynagoge, die in der Reichspogromnacht zerstört wurde.
aufmerksamkeit Nähert man sich dem Gebäudekomplex, ragen zunächst etwas versteckt die in spitzen, dreieckigen Formen verlaufenden Dächer zwischen den umliegenden Wohngebäuden hervor. Steht man davor, sucht das Auge einen ruhigen Moment in der eigenwilligen Architektur.
An der kurzen Seite des Gebäudes, entlang der Gabelsbergerstraße, ist das Baugerüst schon entfernt, die Fassade fertig. Sie schimmert in verschiedenen dunklen Grüntönen. Die glänzende und farblich gedeckte Fassadenstruktur gibt dem Erscheinungsbild mehr Harmonie. Gleichzeitig wirkt die Fassade durch ein rillenartiges Relief unruhig, spitz zulaufende Keramikkacheln sind uneinheitlich angeordnet.
Gefühl Eine junge Frau geht vorüber, schaut neugierig nach oben. Vorsichtig streichelt sie die glatt-glänzende Fassade. Kurz darauf kommt ein Fahrradfahrer vorbei, steigt ab und streicht ebenfalls über die Fliese. Das ungewöhnliche Material zieht nicht nur die Blicke an.
An den Straßenecken sind neue Straßenschilder angebracht. »Synagogenplatz« steht mit weißer Schrift auf blauem Grund. Der Ortsbeirat hatte sich für eine Umbenennung eingesetzt, ansonsten hätte die Postanschrift des künftigen Gemeindezentrum »Hindenburgstraße« geheißen. Unangemessen fand dies nicht nur der Ortsvorsteher der Neustadt angesichts der Rolle des ehemaligen Reichspräsidenten bei der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.
erinnerung Vor der Längsseite des neuen Gebäudes stehen die spärlichen Überreste der alten Synagoge, die seit ihrer Ausgrabung im Jahr 1988 als Mahnmal hier verblieben. Vier mit Efeu berankte Säulen, die bemooste Dachreste tragen, daneben liegen zerschlagene Säulensteine, aufgetürmt zu einem Haufen. Der Gedenkstein davor ist überladen mit abgelegten kleinen Steinen.
An der Ecke zur Josefsstraße steht ein hohes Baustellenschild, überschrieben mit »Licht der Diaspora«, dem Namen des Gemeindezentrums. Passanten lesen die knapp 20 Zeilen mit den Erläuterungen zum architektonischen Entwurf, mit dem sich der Architekt Manuel Herz auf das Thema des Schreibens bezieht und somit auf Mainz als Zentrum der Talmud-Forschung. So mancher Kommentar – »Das ist ja völlig witzlos«, »Wie kann man nur den städtebaulichen Kontext so vernachlässigen« – zeigt, dass es das Gebäude nicht ganz einfach haben wird. Gefällig jedenfalls wirkt es nicht. »Spannend, mal sehen wie es sich noch entwickelt«, meint eine Frau. Der Wachmann dreht schon wieder seine Runden. Ein Bus rauscht vorbei, Vögel zwitschern. Die Zweige der ausladenden Ahornbäume an der Straße um-
spielen das Gebäude.