Traumatische Ereignisse können Menschen ein Leben lang begleiten. Sie werden ein Teil der Persönlichkeit und lassen sich auch nach Jahren oder Jahrzehnten nicht vergessen.
Einer, der mit einem solchen Trauma lebt, ist Ralph Mollerick: 89 Jahre alt, verheiratet, er lebt in Los Angeles in den USA. Seine Geschichte beginnt 1938. Das Jahr in dem seine jüdischen Eltern um das Leben ihres achtjährigen Sohnes und seiner älteren Schwester fürchten. Auf der Suche nach einem Ausweg ergattert der Vater Fahrkarten für den ersten Kindertransport, der jüdische Kinder von Hamburg nach England bringen sollte.
GEBETE »Ich erinnere mich vor allem an den Lärm in der Bahnstation, an die Schreie und Gebete«, erzählt Mollerick. Und an die dreistellige Nummer, die jedes Kind dort zur Identifizierung umgehängt bekam. Nur einen kleinen Koffer mit Kleidung trug er bei sich, sonst nichts. Kein Spielzeug, keine Bücher, kein Geld. Auf Gleis 14 a sah er seine Eltern das letzte Mal.
Die Kindertransporte retteten 10.000 jüdischen Jungen und Mädchen das Leben.
Mollerick gehört zu einer US-amerikanischen Delegation von Holocaust-Überlebenden, die den Nationalsozialisten dank der Kindertransporte entkamen. Der Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland, hat sie anlässlich des 80. Jahrestages der Kindertransporte am Freitag empfangen. Organisiert wurde der Besuch von der »Kindertransport Association« mit Sitz in New York. Neben Berlin macht die Gruppe noch Station in Wien, Amsterdam und London.
Zwischen Dezember 1938 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 wurden laut Schätzungen rund 10.000 Kinder aus Deutschland einschließlich Österreichs und annektierter Teile der Tschechoslowakei zum Schutz vor den Nationalsozialisten nach Großbritannien gebracht. Es handelte sich dabei fast ausschließlich um jüdische Kinder ohne ihre Familien.
AUSWIRKUNGEN Für Ralph Mollerick sind die psychologischen Auswirkungen, die die Kindertransporte auf ihre kleinen Fahrgäste und deren Eltern hatten, besonders wichtig: »Die Kinder wussten nicht, wohin sie gehen und ob sie ihre Eltern je wiedersehen würden.«
Sein Vater habe die Fahrkarten für den Transport erst zwei Tage vor der Abfahrt von einem Nachbarn gekauft, dessen eigene Töchter erkrankt waren und deswegen die Reise nicht antreten konnten. »Mein Vater sagte zu meiner älteren Schwester, dass sie auf mich aufpassen soll.« Dass er nicht wusste, warum er seine Familie und sein Zuhause verlassen musste, ist ein Trauma, das ihn bis heute begleitet.
»Das Schicksal der Kinder, die rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnten, ist ein Aspekt, der in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend bekannt ist. Dass Sie Deutschland besuchen, bedeutet uns viel«, sagt Wieland gegenüber den Überlebenden und ihren Angehörigen in Berlin.
»Ihre Geschichten müssen weitererzählt werden und dürfen nicht vergessen werden«, betont Sigmount A. Königsberg.
Und auch der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, findet deutliche Worte: »Für uns ist der heutige Besuch von Holocaust-Überlebenden in Berlin, die 1938 mit den Kindertransporten den Nazis entkommen sind, sehr wichtig. Ihre Geschichten müssen weitererzählt werden und dürfen nicht vergessen werden.«
Ralph Mollerick hat die Reise nach Deutschland nicht alleine angetreten, sondern seine Frau Phyllis mitgebracht. Sie kennt seine Geschichte und weiß, was er durchlitten hat. »Ralph dachte, dass seine Eltern ihn nach drei Monaten wieder zu sich holen. Das ist nie passiert«, erzählt sie. »Es bricht mir das Herz, zu wissen, was ihm geschehen ist.«
Dennoch hat das Ehepaar Deutschland bereits mehr als 13 Mal besucht und es sogar geschafft, einen Grabstein für Mollericks Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Wolfshagen nahe Kassel zu errichten. »Damit haben wir seine Eltern symbolisch zurück in ihre Heimat gebracht«, erklärt Phyllis Mollerick.