Mit einem »Herzlich willkommen!« auf der Leinwand empfängt die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) ihre Gäste. Unter dem Schriftzug ist ein Logo abgebildet: Einige Menschen halten sich an den Händen, einer von ihnen sitzt im Rollstuhl. An diesem Nachmittag stehen Behinderte und ihre Angehörigen im Mittelpunkt der Informationsveranstaltung der ZWST. Seit 2010 gibt es das Mobile Kompetenz- und Beratungszentrum, dessen Mitarbeiter regelmäßig die jüdischen Gemeinden in Deutschland besuchen, um die Betroffenen vor Ort zu erreichen.
Ilya Rivin aus Frankfurt und Anna Primstein aus Nürnberg sind zwei von ihnen, die seit mehreren Jahren für behinderte Gemeindemitglieder im Einsatz sind. Beide sprechen fließend Deutsch und Russisch, eine Grundvoraussetzung für Job und Tagung. »Wir brauchen beide Sprachen, um möglichst viele zu erreichen«, sagt Rivin.
»Es ist kein leichtes Thema, über das wir sprechen wollen«, weiß auch Benjamin Bloch, Geschäftsführer der ZWST, und eröffnet die Veranstaltung in der Oranienburger Straße. Vor acht Jahren hätten er, Paulette Weber vom Sozialreferat und seine Mitarbeiter erkannt, dass es in den jüdischen Gemeinden behinderte Menschen gibt und dass man sich um ihre Probleme kümmern müsse.
»Es hat Jahre gedauert, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.« Fünf Jahre waren allein notwendig, um zu erfahren, in welchen Gemeinden Behinderte leben. Speziell bei den Zuwanderern sei die Angst groß gewesen, sich zu zeigen, denn sie befürchteten Nachteile. Deshalb sei es wichtig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Gesetzliche Betreuung Etwa 50 Interessierte sind diesmal gekommen, um sich zu informieren. Mehr als zwei Stunden dauert der Vortrag, danach gibt es Einzelberatung, denn »nicht alle trauen sich, ihre Fragen offen zu stellen«, erklärt Rivin. Ein besonders wichtiges Thema sei die Regelung der gesetzlichen Betreuung, wenn die Kinder volljährig sind.
Es werde immer wieder die Frage gestellt, ob die Gemeinden einen Betreuer engagieren können, der sich um die Kinder kümmert, vor allem, wenn sie keine Eltern mehr haben. Außerdem solle er jüdisch sein und sich auch für das Judentum einsetzen.
Bella G. ist mit ihrer Tochter gekommen. Vor drei Jahren, als ihr Mann starb, habe die völlige Einschränkung ihrer Tochter begonnen, erzählt die Mutter. Seitdem sei sie nicht nur geistig behindert, sondern auch noch psychisch krank. Die 50-Jährige könne auch nicht mehr wie bisher in der Werkstatt arbeiten, erzählt die Mutter, die ihre Tochter nun ganz allein betreut.
aktion Mensch Um Menschen wie Bella G. und ihre Tochter kümmert sich auch Dinah Kohan. »Wir haben damals einen Anstoß gegeben«, sagt Kohan, die das Projekt »Integration von Menschen mit psychischer und geistiger Behinderung« von der ersten Minute an mit betreut hat und mittlerweile leitet. Auch die »Aktion Mensch« unterstützt diese Arbeit.
Das Projekt vergleicht Kohan mit einem Baum, der langsam gewachsen ist. »Nun gibt es neben dem Stamm noch unzählige Äste – in Form von Selbsthilfegruppen, Werkstätten oder anderen Projekten.« Das Ziel sei, die Menschen mit Behinderungen aus der Isolation zu holen und in die jüdische Gemeinschaft und die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Fast immer handele es sich um Menschen mit Migrationshintergrund.
Die Angehörigen von behinderten Menschen seien mittlerweile selbstbewusster geworden, hat sie beobachtet. Früher hätten viele am liebsten die Betroffenen versteckt. Nun wollen sich etliche informieren und über ihre Rechte aufgeklärt werden. Mit das wichtigste Thema ist dabei immer wieder: »Wo können wir unsere Kinder unterbringen, wenn wir nicht mehr da sind?«, ein Problem, das auch die 75-jährige Bella G. umtreibt. »Ich bin bedrückt, denn ich spüre mein Alter, leide an der Krankheit meiner Tochter und der Einsamkeit.« Kohan möchte das ändern: »Wir wollen, dass die Angehörigen unterstützt werden und die Förderung der Selbsthilfe im Mittelpunkt steht.«
Hilfsangebote Zu dem neuen Selbstbewusstsein beigetragen hätten vor allem die Freizeiten in Bad Sobernheim. Einmal im Jahr können die Familien dort ein paar Tage verbringen und sich austauschen. »Da spüren sie, dass sie nicht allein mit ihren Sorgen sind«, sagt Kohan. Sie möchte den Teilnehmern einen Ausgleich anbieten, der ihnen Kraft für den oft beschwerlichen Alltag gibt.
Kreative Workshops, Tanzen und Singen sowie Kunstprojekte gebe es für die Betroffenen, Entspannung und Austausch hingegen für die Angehörigen. Leider gebe es nur 80 Plätze. Bei der vergangenen Freizeit hatten sie über 150 Interessierte und mussten vielen absagen. Deshalb soll nun das Konzept geändert werden, sodass mehr Menschen mitfahren können.
Insgesamt hat das Projekt Kontakte zu 280 Familien in Deutschland. In den vergangenen Jahren konnten mehrere Ideen verwirklicht werden. So gibt es nun eine betreute Wohngruppe in Frankfurt, auch behinderte Jugendliche können seit zwei Jahren an den ZWST-Machanot teilnehmen, wo sie von speziell geschulten Madrichim betreut werden, und es konnte in Frankfurt und Berlin eine Werkstatt, jeweils ein Kunstatelier, eingerichtet werden.
Inzwischen gibt es in mehreren Städten nun Selbsthilfegruppen, wie beispielsweise in Recklinghausen. »Wir sind eine unabhängige Gruppe russischsprachiger Eltern, die geistig und psychisch behinderte Kinder oder Angehörige haben. Unsere Kinder und wir Eltern sind doppelt isoliert, da wir einen Migrationshintergrund haben und der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind«, heißt es auf dem Flyer der Einrichtung. Das treffe auch auf ihre Tochter zu. »Sie versteht Deutsch, kann es aber nicht sprechen«, sagt Bella G.
Vorträge Ziel sei es, sich gegenseitig zu unterstützen, Informationen auszutauschen, durch Gespräche die sozialen, persönlichen und behinderungsbedingten Schwierigkeiten zu überwinden, qualifizierte Vorträge zu organisieren, Hilfe bei besonderen Fachfragen zu vermitteln, so Sozialarbeiterin Jana Stachevski. Die Mitglieder wollten gegen die Isolation angehen und fühlten sich mittlerweile gestärkt.
Die Düsseldorfer Selbsthilfegruppe ist durch Eigeninitiative und Unterstützung der ZWST und der Sozialabteilung der jüdischen Gemeinde vor sieben Jahren entstanden. Auf der Tagesordnung stehen sportliche und kreative Aktivitäten der Betroffenen, die auf ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten zugeschnitten sind. Auch die Sprachkenntnisse werden gefördert.
Die Aktivitäten geben den Eltern die Möglichkeit einer Atempause, sagt Sozialarbeiterin Irina Zelenetska. Die Gruppe in Frankfurt ist ein Segen auch für Bella G., die viel mit ihrer Tochter allein zu Hause ist. »Nur zu den Treffen der Selbsthilfegruppe gehen wir hin. Dort treffen wir andere Leute, die uns verstehen«, erzählt die alleinstehende Mutter.
Anders ist es in der Wiesbadener Jüdischen Gemeinde. »Wir sind eine kleine Gemeinde mit 800 Mitgliedern, von denen zwei als behindert gelten«, sagt der Geschäftsführer Steve Landau. Zu wenige, um etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Deshalb lud der Geschäftsführer die Frankfurter Gruppe nach Wiesbaden ein, um Kontakte zu ermöglichen. In der Gemeinde gebe es mehr altersbedingte Behinderungen. »Wir wollen für diese ebenfalls ein gutes Netzwerk schaffen.«
Dinah Kohan hat noch mehr vor: Im April treffen sich im Rahmen eines Europäischen Projektes eine Woche lang Juden mit einer Behinderung und ihre Angehörigen aus der Schweiz, Tschechien, Lettland und Deutschland, um sich gemeinsam zu bilden. »Es soll auch über die Landesgrenzen hinausgehen.«